Dresden - ein Touristenflash


Fahrt von H nach DD war ruhig und trotz 4 einviertel Stunden gemütlich. Überraschenderweise ist doch überall mehr aufgebaut als nach dem Verschwinden der Industrie zu erwarten war. Viel mehr Neues als vor fünf Jahren. Trotzdem finde ich die Brachen dazwischen nicht abstoßend, sondern eher nostalgisch. Kenne noch die alten Türen mit den Alugriffen, die ausgetretenen Stufen, das verrauchte Mauerwerk, wo entlang wir damals schwere alte Werkzeuge über welligen Beton schleiften.


Andrerseits das Grün, das um die alten Mauern steigt. Natur holt sich ihr Teil zurück. Dahinter gibts Refugien, Keller, Labyrinthe von Gängen, einzelne unversehrte Räume, wo vielleicht noch Akten mit FDGB-Urlaubsscheinen schlafen (wer erweckt sie zum Leben?), Reste einer Kantinenbestuhlung, erst Aktivistenauszeichnung, dann Betriebsfeier. Kaderleiter liegt heute unter dem Tisch, übermorgen wieder etepetete. Saufen ist kein Wille, sondern Lebensweise, Kommunikation. Vorbei die Zeit; der Zug läßt sie nach rückwärts entfliegen.


Der große Bahnhof ist vom Hochwasser gezeichnet. Geschwärzt, entputzt, ausgeräumt und vollgestellt. Die alte Mitropa finde ich überhaupt nicht wieder. Finsterer gemütlicher Teil damals nach einem Studier-Tag voller schlafnaher Lesung und Rechnerei. Bratkartoff und Bier. Unvergeßlicher Ober, der uns die sprachschöpferischen Qualitäten seines Berufsstandes ins hellste Licht setzte. Pysi hatte etwas gespreizt das "Ungarische Spezialgulasch nach Art des Hauses mit diesem und jenem" bestellt. Und ich hörte den Kellner, der mich auf dem Weg zur Toilette überholte, in den Küchenschacht rufen: "Einmal Scheiße mit!" Mir ist nur unser gelbes Bier im gilbenden Licht erinnerlich. Die riesige, viel zu hohe Halle drumherum schien im Dunkel zu liegen.


Die gelbe gelbe Straßenbahn, na, vielleicht etwas mehr blaßgelb, macht uns eine Stadtführung durch die Sehenswürdig- und Unwürdigkeiten. Kirchen, Baustellen, bunte Platten, Schloßfassaden und schloßähnliche Bürgerhäuser bimmeln vorbei. Die lange Elbbrücke eröffnet ein berühmtes Panorama, dahinter wird es schlichter und dichter. Obstkisten, Fahrradständer, Zeitungsläden “...komm, hier steigen wir mal aus... ein Stück zu Fuß...” Übrigens “bimmeln” ist natürlich zuviel gesagt. Eine Straßenbahn der Gegenwart schnarrt, blinkt und düdelt. Gebimmelt hat sie damals als sie, im Halbschlaf einer Vorlesung durch die hohen Scheiben verfolgt, zum Nürnberger Ei hinaufzuckelte. Wie Spielzeug die kleinen Zweiachser; der Wind trägt die Fahrgeräusche unregelmäßig und geschwächt herüber. Hypnotisch - nicht einschlafen. Heute sitzen wir gepolstert im Wechsel von Sonne und Schatten “...sieh mal die Blaue”, “und da den Turm”, “die Figur fehlt”, “wird vielleicht vergoldet”.



Abends Bruckner in der Frauenkirche; das beste denkbare Environment. Optisch Pracht und Harmonie, harmonische Pracht. Pracht des Altars mit schwebenden und neigenden Gestalten und sich öffnenden Wolken, die ein Strahlenmeer von Gold herabfeuern. Um uns helle Säulen und Galerien steigend und steigend bis zu dreifacher Kuppel auf Kuppel Genickstarre.


Das zu Tränen erschütternde daran ist die weltweite Anstrengung mit der dieses Nonprofitunternehmen ausgerechnet nach der Heiligsprechung des Gewinns in den Himmel gewuchtet wurde. Aus einem schwarzen trostlosen Trümmerhaufen war eine helle, fast tänzerische neunzig Meter hohe, leichte Erscheinung aus schwerem Stein geworden. Und das ist die zweite Erschütterung daran: hier wurde nicht nur symbolisch zurückgeholt, was dem Menschen seit dem ersten Aufscheinen des Bewußtseins, seit den ersten Undertakern, seit Orpheus und aller Philosophie unwiderbringlich schien - die Vergangenheit. Da steht sie wieder, detailtreu ins Bild gezaubert.


Frühbeck de Bourgos bringt die Sache als das was sie ist - ein Seelendrama. Nicht konstruiert, sondern erlitten. Der Versuch, das als Melodienreigen zu konsumieren, die Drohung zu überhören, endet im Frust. Da paßt nichts zusammen. Man muß die Verzweiflung mitnehmen. Wenn sich daraus die Seele erhebt, dann wühlt im Untergrund der Schmerz und die Angst weiter wie in einer schlaflosen Nacht. Hemmt zwar den Flug, aber schnürt das Drama bis der Anton sich gewaltig herausarbeitet, an Höhe gewinnt und, wie man plötzlich merkt, die Erde hinter sich läßt. Da schwebt man einige Momente mit ihm extraterrestisch und kann dann wie im Traum, entweder sanft herabgelassen von neuem beginnen oder sich von einem fürchterlichen Tutto-Aufschrei in die Tiefe werfen lassen. Wunderbar gebracht. Nur an manchen Stellen denke ich, die Crescendi sollten nicht beschleunigt werden. Das Voranschreiten wäre stetiger, aber noch gewaltiger.


Wenn die Prager Straße sich leert, im Mai jetzt so etwa mit Sonnenuntergang, dann wird sie in der schleifenden Bestrahlung zu einer futuristischen Startbahn, mit kilometerlangen weißverkleideten Kühl- oder Schaltaggregaten möbliert; man glaubt die Laser-Hilfslinien der Zentralperspektive zu sehen, die der seelenlose aber genaue Konstrukteur sich gezogen hat. Keine Übergänge zwischen leuchtendem Gelb und kühlen Schatten. Wie weit darf man eigentlich weg vom Alltagsmenschentum, wenn man sich an seine, dieses Tums Beschreibung macht? Will man alle Beschränkung vergessen, dann zählt man als glasäugiges Sachmonster nur noch Atome. In einem selbst fehlte alles, was noch Resonanz mit dem Mitmensch finden könnte. Steckt man dagegen zu tief im Tagesgeschäft, dann wird man wie von der Bildzeitung nur noch von einer Emotion zur anderen gejagt. Also versetzt man sich, da man das Überlebensinventar seiner Vorurteile nie ganz loswird, ab und zu auf einen Standpunkt außerhalb der Atmosphäre. "Nu komm mal wieder runter," sagt Isi.


An dem Tafelaufsatz hat der Goldschmied vier Jahre lang gearbeitet. Und ihn dann einen Tag vor Weihnachten seinem Großkunden präsentiert und angeboten. Wenn dr Keenich anbiß, wars die Rettung, wenn nicht, de Pleite. Aber der Goldschmied kannte seinen Keenich, natürlich bisser an. Bloß Geld war nich da, Aujust mußte pumpen, auf Raten abstottern. Der Betrag war etwa so hoch, wie der Baupreis fürs Schloß Pillnitz. Fingergroße Figuren aus Gold, Degen wie Nadeln und Augen aus Edelstein, wehende Kleider und Engelsflügel, goldene Pavillons und geschmückte Boote, alles vorfinanziert. Oder weiter weg an den Wänden die Intarsien aus Halbedelstein, farbenprächtige Blumen und Vogelfedern in den schwarzglänzenden Hintergrund auf hundertstel Millimeter genau eingeschliffen und -gepaßt, ein Wunder neben dem andern. Was unterschied sie, diese kostbaren Wunder von der Sixtinia nebenan?


Zuerst natürlich das Verhältnis von Materialkosten zum Preis. Na, und dann die Wahrnehmung des Materials. Beim Handwerk staunt man darüber, wie es verwandelt wurde. Da wurde aus Gold eine Gestalt, aus Steinen ein Gesicht, aus Elfenbein ein Segel. Man erkennt die Gestalt und fragt, wie konnte das Material sie annehmen. Beides paßt nicht zusammen und das Wunder besteht darin, daß es trotzdem eins geworden ist. Bei der Sixtinia sieht man das Gesicht und fragt sich, das Material vergessend, woher ist es gekommen? Wie kann Menschsein so leicht sich finden zwischen allen Begriffen? Heißt zwischen Unschuld und Wissen, zwischen Leichtigkeit und Kraft, zwischen höchstem Glück und tiefstem Leid und zwischen, nein nicht zwischen, sondern unter Einschluß von Anmut und Würde. Alles mit unseren drei Augen, drei Punkte auf Gelb.


Krönung ist dann das Café; endlich sitzend in der Sonne, den leichten Frühlingswind um die Stirn, wissend um die zuverlässige Herstellung und baldige Anlieferung der Melange. Nun kann man sich einige Gedanken zur Vergänglichkeit erlauben. Wie im Halbschlaf kommentieren wir träge das Gesehene, aber das Sonnenlicht, eine Nuance zu weiß, mahnt uns, daß wir im Umkreis von einigen Lichtjahrzehnten keinen annähernd so kommoden Ort der Muße finden würden. Und auch den verlassen wir noch früh genug mit dem Zerfall jener Ordnung, die für einige Zeit einen Haufen von Atomen in das Reich und die Fähigkeit der Wahrnehmung gehoben hatte. Und Dunkel umflort’ ihn. Rein theoretisch wie gesagt, Ewigkeit nur als Würze des Wohlgefühls.





Wir hören eine eigenartige Geschichte und sehen wie Fafners Ende sich als Mäusleinschwanz aus der Höhle ringelt. Zum ehemaligen Stasiknast, jetzt Gedenkstätte, sollte ein Schild hinweisen. Es wird aufgestellt und siehe, am nächsten Tag ist es verschwunden. Nach einiger Zeit wird es wieder aufgestellt - das gleiche Spiel. Nun das Versprechen, das Schild tief einzugraben und fest zu verankern. Das war der letzte Stand. Dieselbe Psychologie wie bei den Neonazis: man hält das Getane für richtig, hat es im Programm, alles nach Recht und Gesetz, aber die Spuren soll keiner sehen.


Immer wieder die Frage, gibt es einen Sozialismus ohne Stasi? Eine Notwendigkeit ist zunächst nicht zu sehen. Aber wer die Steuerungsmacht der Abstrakta außer Kraft setzt (was im Reich der Globalisierung wenigstens zeitweise versucht werden sollte) muß selber steuern. Hallo, hier Glühbirne aus Karaganda, suche Kinokarte in Moskau. Hier Kartoffeln aus Kasan, suchen Auto aus Wolgograd. Kohle vom Donezk sucht Stipendium für Riga. Korn aus Minsk sucht ehrlichen Fernseher aus Petersburg. Usw. Was nützt da Kompetenz? Eine Planung ohne Vollmacht kannste vergessen; das zu steuern wird Macht gebraucht, klar. Aber Macht ohne Feind hat kein Widerlager und damit ist es passiert: eine Behörde muß her für die Herstellung der Feinde.


Und als man sich dann abends die Beine abgeloofen hatte, gings in die Vorstellung. Prae ludiis die Blase geschont, um sich nicht mittendrin rauszuarbeiten.


Der Kabarettist Georg Schramm ist offenbar wirklich verzweifelt über die Blödheit der Betrogenen. Steht er auf ihrer Seite? Er schildert sie so lachhaft typisch und kurzsichtig eingefangen in ihrer emotionsgesteuerten Kreisdenke, daß man sich nicht sicher ist. Mit Mühe hat er einen seiner Lieblinge auf die Spur gebracht und meint-spielt, jetzt reden wir zur Sache. Aber dann das kleinste Stichwort daneben, nur ein Geräusch von außerhalb und der Liebling schwadroniert wie losgelassen von sei Obba, vom letzten TÜV oder vom vorletzten Bier. Irgendwann könnte er, Schramm, brüllen, ach laßt mich in Ruhe, laßt Euch zuscheißen bis Ihr untergeht! Oder? Nein, eher mach er wohl doch weiter mit den, mit seinen Windmühlen.


Am Ende mit trockener Kehle durch die Nacht ins Taschenberg oder sonst eine Quelle. Wir zwei. Meist an die Theke und in bester Stimmung wg. positiver Erwartung der Löscharbeiten. Scherzworte mit den Zapfern und dann, wie geschrieben steht: "...spürte direkt wie sie herablief klingeling". Muß sagen, die Stimmung ist kommunikativer wenn man in der Kneipe sitzt. Sei es auch nur zu zweit und die anderen sind nicht beteiligt. Taubes Auditorium hört zu. Aber ihre bloße Anwesenheit sorgt dafür, daß man seine Worte, daß man sich etwas besser ordnet. Fluidum.


Die Neustadt sieht eigentlich aus wie altgeworden. Gemütlicher grauer Putz neben den frischen Farben der Prosperität, kleine Suppenküchen, Gemüseläden mit Äpfeln für 47 Cent das Kilo, Buchläden und Zweithand. Auch viele Leute, die Straßenbahn fahren, dafür weniger Touristen in ihrem sauberen Bunt. Und nicht zu versäumen das Raskolnikoff in der Böhmischen Straße mit seiner Berühmtheit, der Grünen Suppe. Meist Spinat, aber auch Brennessel, Bärlauch, Rauke und vieles andere nach Jahreszeit fein gewiegt, ein Chlorophyllkonzentrat. Dieser Stadtteil sieht am ehsten aus wie früher. “Wolln wir...?” Nach kurzer Beratung entscheiden wir uns für das Lokal. Innen massives helles Holz und eine offene Küchenzeile; gemütlich, draußen ein kleiner ummauerter Garten.


Ganz anders das Café auf der Kuppel der modernen Galerie, Stahl und Glas, zwischen Hotel und Bahnhof. Dessen Dach strahlte wie die Dächer der Goldstadt On blendend aber in Silber wegen einer reflektierenden Folie und auch andere gläserne Wände reflektierten die Sonne. Von unserem Tisch hatten wir einen Blick über die Stadt, der nur mit dunkler Sonnenbrille zu ertragen war. Die Räuden des Krieges waren hier noch nicht ganz oder sehr willkürlich und unregelmäßig zugewachsen. Dann kamen wir immer auf unsere Mütter. Beide hatten nach dem Kriegstod unserer Väter eigentlich nie vergessen können und beide hatten, auch als die Familienarbeit nachließ, nie wieder eine bezahlte Tätigkeit angenommen. Wir Kinder waren geneigt, die gutbürgerliche Herkunft unserer Mütter dafür verantwortlich zu machen. Aber es war wohl mehr dahinter. Wenn ich die alten Fotos ansah, das Haus, das Boot, die Passagierdecks, die Feste, dann war da eine Welt untergegangen, die von derjenigen des Nachkrieges aus nicht mehr zu erreichen war.


Danach zum Nürnberger Ei hochgefahren in Erinnerung an die Studentenzeit. Damals war Betrieb in den Läden; wir standen nach Fleischsalat an und eine unwahrscheinlich schnelle und freundliche Verkäuferin bediente, gänzlich ungewohnt in der Zuteilungswirtschaft. Irgendwann hörte ich, sie wäre Volkskammerabgeordnete gewesen. Der Hennecke des Verkaufs, tausendundsechs Prozent Übererfüllung. Jetzt waren da auch so Läden, chemische Reinigung, Bäcker, Bank, aber alles recht still. Trotz des kühlen Windes schien es etwas aus der Welt... fern wie die Stelle wo kein Hauch mehr weht... weiße Fassaden... nur die gute alte Straßenbahn unter den Bäumen fuhr den Endkreis... alles weggerückt wie durch ein Weitwinkel... die Kellnerinnen halb versteckt... draußen immer weniger Passanten... Stimmung des Verschwindens...



Am Ende sitzen wir wieder zwischen den Gleisen auf der Wartebank. Wo war nur die alte Mitropa? "Ich geh mal da oben rauf," sag ich, "es ist ja noch ne halbe Stunde bis zur Abfahrt." "Aber ich sitz im Zug, wenn Du nicht zurück bist." Der Bahnhof regt sie mehr auf als ein Flughafen; muß man nur wissen. Hinter der gewaltigen Säule links, jetzt von den Gleisen aus gesehen, könnte es gewesen sein. Überall staubige Folien und Rohrgerüste, aber vor mir der bloße schwarze starrende Stein. Geologische Zeiträume stehen nicht zur Diskussion, trotzdem blickt er zurück, ur-gealtert von der Glut und dem Schreien jener Nächte, die ihm die Farbe gegeben haben. Ich meine, er blickt mich an wie ich ihn. Oder ist es nur mein Wissen um die Geschichte, die Schichten seiner Patina? Mit drohendem Ausdruck.


Beim Ausfahren zogen die Fassaden, zwischenzeitlich durch nahe Wände verdunkelt, wie geschobene Kulissen vorbei. Sehr alte waren darunter, möglicherweise aus der Vorkriegszeit oder sogar solche, die den Hurrah-Kaiser auf Besuch gesehen hatten. Oder solche düsteren, wo die, die es bezahlen sollten, in dichten, dann aufgelösten Massen schwarzweiß flimmernd und mit Melonen behütet die Straßen herabrannten. Alles hatte sich erfüllt und schien in der Gegenwart sozusagen erledigt. Die Stadt war nun ein Fest, wenn auch mit leiser Angst unterlegt. Isi freut sich immer auf das was vor uns liegt; ich habe immer eine Sehnsucht nach dem was wir grad verlassen. Was habe ich denn erlebt? Soviel wie ein Scheinwerfer, der einmal über die Stadt streicht. Hier ein Aufleuchten, da eine Merkwürdigkeit, nicht ganz zu erkennen, da eine Farbe, vielleicht auch ein Mensch....

Würde bleiben, wenn...