Halle 

 

In Halle Hauptbahnhof ausgestiegen, war ich entgegen meinen Erwartungen der einzige, der durch das weite Empfangsgebäude den Tisch des Organisationsbüros ansteuerte. Zwei freundliche aber genaue Jungen der Rucksackgeneration saßen dahinter und wälzten die Papiere. Name, Fahrkarte, Anmeldung, Liste, alles stimmte, ich war eingetragen, Unterschrift - ok. Erstmal ne Blume zur Begrüßung der Quartierwirtin. Suchend quer durch die Halle; weitläufiges graues Fliesenmeer. Ach, direkt da vorn. Verkaufsstand, Schilder, Werbung und Preise im Laden auf der Höhe der Zeit. Aber die langen Wege zwischen Blumeneimer, Papierrolle, Drahtknäuel, Kasse, alles einzeln und gemessen hin und her, warten, warten, das war noch ein Hauch von HO. Am besten eine einzelne Blume, nicht so förmlich und paßt für alles.


Umweltinitiative Verkehr, Bundeskongreß, also keine Taxe, wie früher auf den Dienstreisen - aber wo war die Straßenbahn? Auf dem gemütlichen Vorplatz nur Autos..., doch hier, irgendwo nach links ein Hinweis. Ein langer, weiter, kahler, feuchter Tunnel, ein paar Fidschis - oder Vietschis, von Viet..? - hocken an den Wänden mit Zigarettenstangen und T-shirts, lautlos, reglos, heimatlos. Dann noch ein Tunnel, noch kahler und noch dunkler, die gewundenen Treppen zum Rondell rauf, wieder ans schwache Tageslicht, Symphonie in Grau, ein Platz von gigantischer Trostlosigkeit. Unter dem Betonhimmel einer aufgestelzten Hochstraße winzig und wacklig die Haltestellen. Der ganze Horizont voller Platte, nur unterbrochen durch den Bahnhof. Wal-des-grün oder spiel mir das Lied vom Zement.


Rumpelnd und manchmal sehr schnell trug mich die Bahn erst durch weitläufige Plattentektonik und dann in die enge, aber vormals gutbürgerlich bebaute Innenstadt. Klar, wieder überall die Ruinen ohne Waffen, doch die Filetstücke in der Fußgängerzone schon schön und frisch gestrichen, Deutsche Bank, Mecklenburger Versicherung, exklusive Schuhmode...


Dann wieder schwarzer Putz und schwarze Scheiben, teils eingeschlagen, jedes dritte Haus verlassen. Hier und da grelle Läden, billig, billig, in ziemlichen Abständen Sonnenstudios, Reisebüros, Jeans, Spielhallen, Frisöre, Gemüse.


Die Puschkinstraße ist stiller. Öffnet sich auf der Hälfte zu einem hübschen Platz. Treppen, ein Restaurant, chinesisch, Stühle draußen, schön unter großen Sonnenschirmen. Wollte aber noch kein Mittag, höchstens ne Kleinigkeit. Nur - in den normalen Kneipen ist überall Rabatz, bis auf die Straße zu hören. Vatertagsstimmung, gucke gar nicht erst rein.


Sehr still, sehr grau ist das obere Stück der Straße, grad 100 Meter lang. Genau an der stumpfen Ecke ist das Tor zu Nummer 16. Ein großer Torbogen, ausgefüllt mit einer riesigen, uralten, mehrteiligen Holztür. Sieht aus, als hätte sie schon die glücklichen Bauherren der Jahrhundertwende erlebt, dann die Schlafstellenmieter der Wirtschaftskrise, SA-Gebrüll und Judenjagd, die Bombergeschwader nach Leipzig, den Einzug der Russen, das stramme Blühen und das lange Welken des Sozialismus. Auf dem Klingelschild keine Anne M... es hieß ja auch in Klammern Hinterhaus. Im Dunkel des Eingangs kannelierte Halbreliefsäulen, Glasteiler mit Scherben besetzt, Treppenhaus und wieder so eine Torfüllung. Dahinter aber trotz hoher putzloser Mauern ein krautig verwinkelter Hof mit Zaunfragmenten, Buschwerk, Gießkanne, Briketts, Fahrrädern, einem Trabi - wie kommt der hierein? - und lichtdurchfluteter Baumkrone darüber. Ein anderer Planet. Ein eignener. Von meiner Welt getrennt durch rückwärtslaufende Zeit. Bin zurückgekommen. Fehlt nur noch der alte Brunnen unter den Akazien.


Kleiner das Hinterhaus. Sein Treppenaufgang ist wohnlich eingerichtet, wirkt wie ein Vorzimmer. An den Geländern sind Fahrräder angekettet, auf den Podesten stehen Waschtische, Körbe mit Pfandflaschen, Koffer und in den Fenstern grünen Pflanzen über Pflanzen, alle gepflegt und gegossen. Hochparterre nein, erster Stock Treffer. Bei der Anmeldung hatten wir unser Alter angeben sollen. Also stelle ich mir die Wirtin so vor: altgeworden aber junggeblieben, alternativ und unermüdlich.


Es öffnet Anne 24, sehr zurückhaltend, aber freundlich mit einer runden lustigen Brille auf der feingebogenen Nase. Führt mich durch einen vollgestellten dunklen Flur in das alternative Wohnzimmer. Sie stellt sich aber nicht vor, so daß ich frage: "Sie sind Anne M.?" "Ja," sagt sie. Sofa und Sitze sind gemütlich, sicher vom Sperrmüll, wenn es hier sowas gibt; auf dem Boden liegt einiges, die Wände sind sehr unregelmäßig vollgestellt, aber vor dem Fenster soviel Blumen, daß ich mir vorkomme wie in einem Aquarium. Warmgefiltertes Licht und irgendwas sehr Einladendes, was vielleicht doch von den Möbeln ausgeht... jedenfalls sage ich ohne zu überlegen: "Ist das schön hier!"


Jetzt erst merke ich, daß auf dem Sofa, halb unter Decken eine zweite Frau liegt. Sie schält sich etwas verlegen heraus, steht auf und sagt: "Ich bin Vera." Sie hat einen Bubikopf, fast wie ein russischer Muschik, hinten hochgeschnitten, vorne strähnig, so sind wir als Schuljungen rumgelaufen. Nur über das Alter bin ich mir bei beiden nicht klar. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Gymnasiastinnen, aber in den Bewegungen und den Augen sind sie reifer. Ich verhalte mich sehr ruhig und bescheiden. Habe den Eindruck, daß sie den lärmenden Wessi fürchten.


Ob ich einen Kaffee wollte. Gern, ich würde mir anschließend irgendwo ein Mittagessen suchen. Na, was man so redet, woher und wohin, wie man wohnt und wie teuer. Allmählich mußten sie mir beipulen, daß man oben eine Matratze für mich hätte, ich könne natürlich auch hier unten auf dem Sofa... wahrscheinlich wegen meines gesetzten Alters, aber sicher waren sie sich auch nicht. Reife und Bauch fehlten nämlich. Meingott, sagte ich, ich habe zwei Jahre meines Berufslebens noch auf Matratzen geschlafen, habe überhaupt kein Problem damit! "Da oben kann es sich aber sehr aufheizen," meinte Vera, zu gut, um die Sache sich selbst abschließen zu lassen. "Hitze macht mir Nachts zu schaffen, aber es gibt Gewitter," sagte ich, "also gucken wir einfach, wenns soweit ist, dann können wir immer noch drüber reden."


"Ich mache mich auf, wegen Schappi," sagte ich, "die Tasche kann ich ja hierlassen, oder ich bring sie gleich nach oben und seh schon mal das Zimmer." Vera kam mit, um es zu zeigen. Der Dachboden wie aus Kindertagen mit verwunschenen Lattentüren; dahinter der Sperrmüll aller Zeiten, mit Lichtkeilen, die zwischen staubige und geheimnisvolle Möbel fielen und ein unabsehbares Ende im Dunkel. Meine Kammer vorn war richtig rührend zurechtgamacht. Die Matratze bezogen mit Decke und Kopfkissen, ein magerer Tisch, ein Stuhl, ein über und über mit allem Möglichen beklebter Schrank, ja, und wir beide - mehr paßte nicht hinein. Zu dem kleinen Fenster mußte man sich hinabbeugen. Ein Lampenfuß mit Glühbirne stand auf dem Tisch, ging aber nur an, wenn das Bodenlicht brannte. Obwohl die Fluchtdistanz unterschritten war, vibrierte eine leise Anziehung. Wieso fiel mir das ein: dieser DDR-Film von 71, aber schon mit denselben kaputten Fassaden, wo sie bei dem Philosophen übernachtet hatte. Er wollte wissen, wie das Messer ins Bett kam. Sie schwieg lange und er stellte seine Fragen genau. Er kannte das Messer nicht. Schließlich sagte sie: "Ich wollte Dich umbringen." "Und warum hast Du es nicht getan?" "Weil ich eingeschlafen bin." "Dann lebe ich also nur noch, weil Du müde warst!?" Vielleicht die Art von Intimität. Wunsch des Gedankens und die Nähe.


"Wunderbar," sagte ich, "überhaupt nicht zu heiß, schlafe bei offenem Fenster sowieso - hier bleib ich!" Vera ging wieder runter und ich konnte meine Sachen in Ruhe einräumen.


Diese Aufkleber am Schrank: viel DDR, teils ironisch, teils nostalgisch. Eine halbe Zeitungsseite voller Losungen zum X-ten Parteitag 1988, als schon alles bröckelte. Aber auch noch volle Pulle Sozialismus, zackig und umständlich.

 

Hatte den Eindruck, die Frauen waren irgendwie erleichtert. Als wir uns unten wieder gesetzt hatten, sagte Vera, sie würden jetzt zu ihrer Mutter gehen und dort essen und ob ich mitkommen wollte. "Bin ich eingeladen?" fragte ich. "Ja, es gibt genug, möchten sie?" "Gern," sagte ich. Dachte sogar, das trifft sich gut, möchte mit den Leuten reden. Meine Schwierigkeiten, Bekanntschaft zu machen... Glück gehabt. Jetzt von selbst, weil ichs nicht drauf anlegte.


Die Linie 2 war zu nehmen. Beim Enbiegen in die Hauptstraße war sie unten schon zu sehen. Vera machte ein paar schnellere Schritte, blickte zu uns zurück, ging wieder vor. Als ich kapierte, sagte ich "wollen wir laufen - ich lauf mit". Vera spurtete los, Anne und ich hinterher. Der Fahrer sah uns kommen, hielt die Tür auf.


Anne setzte sich auf eine Doppelbank, ich mich hinter sie, um Vera die Wahl zu lassen. Vera wollte, so analysierte ich, einerseits nicht gleich den Gast okkupieren, andererseits keinen allein sitzen lassen und blieb stehen. Ich beugte mich vor zu Anne, zeigte nach draußen: "Manche können das nicht lange ertragen und hauen spätestens nach drei Tagen ab. Ich hab hier immer son Gefühl von stehengebliebener Zeit... Reise in die Vergangenheit, wie son schöner alter Film." "Sind doch auch schöne alte Stadtteile," sagte Anne, "ich fühl mich hier wohl." Sie ignorierte, daß der Wessi die Zerstörung meinte. Verständlich; auch Karlshorst war mir erst so kaputt vorgekommen, als ich es nach 35 Jahren wiedersah. Und die Nostalgie: Eine Jalousie, die ich tausendmal auf dem Schulweg abgerissen und schief im Eingang des alten aufgegebenen Geschäfts hatte hängen sehen - sie hing nach der Zeit noch genauso. Hier die blassen alten Aufschriften in Gotisch: Kolonialwaren, Kohlenhandel, Milch, Juwelen, Bandagen. Vorkrieg. Nein Vorvorkrieg.


Am Bahnhof vorbei in den anderen Stadtteil. Lange ruhige breite Ausfallstraße. Wir bogen ab in eine Nebenstraße, die noch stiller wirkte, weil links so etwas sich hinzog, wie ein verlassenes Fabrikgebäude. Rechts Mehrfamilienhäuser, grau, ruhig, aber bewohnt. Zweihundert Meter gingen wir wie ziellos, rochierend, damit kein Paar sich bildete. In der Neben-nebenstraße lösten die Häuser sich auf in einzelne Gebäude, zwei- und dreistöckig. Weltende nach 50 Metern, Unkraut, eine Mauer und da war es.


Vera führte uns hinein; wir standen im Flur, weil keiner drin war. Wir sahen, wie sie sich aus dem Fenster lehnte und in den Garten sprach. Da wir uns nicht telefonisch avisieren konnten, mußte sie mehrmals nachfassen: "...nun komm doch mal rauf, wir haben Besuch!" Meinetwegen doch, und ich stand da mit meinem Blumenstrauß. Dachte, was sie wohl sagten - einfach so zum Essen reingeschneit. Aber kein Problem, wir holten ein paar Stühle ins Gras und schoben den Tisch in den Schatten. Drei, vier junge Leute waren schon da, abgefüttert. "Es gibt noch genug!" Gläser wurden geholt, Teller aus dem Fenster gereicht, Wein eingeschüttet, Vera und ihre Mutter tummelten sich in der Küche.


Ich ging an die Mauer. Man konnte gerade rübergucken. So was wie ein großes dunkles Schulgebäude unter riesigen Bäumen. Und weiter links Reihen von stehenden Steinen, alle gleich, aus hellrosa Granit, oben immer ein Sowjetstern eingemeißelt - doch, alles Grabsteine. Jeder für eine Frau, die alle Jahre einmal still und ohne Haß davorstand. Als hätte nicht der Feind, sondern Gott genommen. Den, dessen Bild seit fünfzig Jahren auf dem Vertiko nicht mehr gealtert ist. Wolja, Kostja, Stepan, Anton, mein Täubchen, - nie geheilte Wunden, reglos unter den Blumen. "Kommen eigentlich jetzt noch welche zu den Gräbern.... ich meine, wegen der Reisekosten?" Doch, sagte die Mutter von Vera, es wären öfter mal Besucher da.


Die Mutter schien früher mit der Jugendbetreuung, vielleicht im Dienst der Partei, befaßt gewesen zu sein. Wie kamen wir darauf? Ach ja, das große Regenwasserfaß. Sie erzählte, wie man in pommerschen oder polnischen Wäldern kampiert hatte und wie gut man mit den natürlichen Verhältnissen, Grundwasser, Plumpsklo undsoweiter, zurechtgekommen wäre. Kalt, aber immer sauber und ordentlich. Anne lachte vor Verlegenheit, Vera füllte mir den Teller. Natürlich auch der Einigungsvertrag, der Wahnsinn mit der Rückgabe kam zur Sprache, ich konnte nur zustimmen.


Auffallend: die Männer sprachen immer frei weg, die Frauen warteten still, bis sie dran waren und redeten dann sehr leise, meist nur einander zugewandt. Wir kamen irgendwie auf Weihnachten und einer sagte, das Fest des Friedens, mal Ruhe im Karton. Grade nicht, meinte ich, jetzt gehts zur Sache, kein Ausweg mehr, Weihnachten sind die meisten Familienschlägereien und Selbstmorde, die Polizei nur am Rennen. Der witzigste Beitrag kam von Vera, "...das wollte ich Dir immer schon sagen.." aber eben nur halblaut und zu Anne hin, so daß ich es grad noch mitkriegte. So konnte ich sie ansehen und gehörig darüber lachen.


Gegen 16 Uhr wollte ich am Tagungsort sein. Nicht wegen des pünktlichen Beginns, sondern weil es Karten gab für eine "Show der 50er Jahre". Sie war im Programm avisiert worden und ich hatte die beiden Frauen gefragt, ob sie Interesse hätten. Vera hatte zwar gesagt, sie wüßte es noch nicht, weil sie vielleicht an die Ostsee fahren würde. "Wovon hängt das denn ab?" fragte ich. Sie meinte vom Wetter. "Das regnet Strippen," sagte ich, "und außerdem - mit dem Auto an die Ostsee... nur für zwei Tage!?" Ja, sagte sie halblaut, warum nicht. Ökologische Unschuld. Ich dachte mir, ich hole einfach drei Karten, irgendwie krieg ich sie schon mit. Und deswegen mußte ich los, sonst war nachher ausverkauft.


Obwohl ich sagte, ich finde den Weg, das ist doch ganz einfach, brachte Vera mich zur Straßenbahn. Was wir geredet haben, weiß ich absolut nicht mehr. Vielleicht gar nichts. Ihre stille Art zog mich leicht an. Dabei war sie schnell mit dem Kopf und ich fragte mich, was sie wohl über den Fremden, also über mich dachte. Unverbindlich. Als Fußgänger, nein Schlenderer der Luft bewegten wir uns. Kaum Bodenberührung.


Von dem Auflauf, beim Essen vorhin, hatte sie mir zu viel aufgetan. Ich teilte mit meiner gebrauchten Gabel wieder ein Drittel ab und bat sie erst streng, dann lachend, es ihrer viel zu kleinen Portion zuschlagen zu dürfen. Sie erlaubte es und aß brav alles auf.


An der Haltestelle sagte ich, ich besorge drei Karten und wenn Sie nicht können, dann werde ich sie schon wieder los. Endgültig sagte sie aber noch nicht zu.


Die Straßenbahn rumpelte und quietschte wieder in den Weichen und Kurven und jagte krachend auf den Geraden dahin. Zwanzig Minuten lang quer durch die Stadt. Die blendende Helligkeit des frühen Nachmittags wurde allmählich durch Wolken gemildert. Da nagelt einer ein großes buntes Schild auf die schwarze kaputte Fassade. Der guten alten Zeit wird gerade der Organisationsgrad des überanstrengten Spätkapitalismus aufgestülpt.


Die Helene-Lange-Schule lag einen kleinen Fußweg zurück und etwas aufwärts, da, wo die Straße holpriger wurde und, sich zu einem Wendeplatz verbreiternd, einfach zu enden schien. Und hier die Losung, auf einem langen hängenden Bettuch: "Chaos Verkehr, Bundesinitiativen Umweltschutz"


Innen richtiger Organisationsbetrieb, fünf Tische, alphabetische Unterteilung, zwei Mann am Wühlen, Schreiben und Sortieren, gottseidank noch nicht so viele Teilnehmer. Das Gedränge in Grenzen. Erstmal mußte ich alles bezahlen: Gebühr, Essen für morgen, und vor allem die Eintrittskarten, die aber auch erst morgen verteilt wurden. Im ersten Klassenraum war ein Buffet aufgebaut, heiße Würstchen eingeschlossen. Stück 1.50, Brötchen eine Mark, Suppe dito. Ich schritt auf dem Flur langsam die langen Büchertheken ab. Handzettel fürs Radfahren als Weltanschauung, rückengedrahtete Broschüren mit Meßwerten von Spurengasen, ausführliche Studien mit vollständigen Planungsunterlagen, Schwarzweißfotos, Kinderzeichnungen, alles wahr, abgeleitet und bewiesen - trotzdem komme ich mir auf einmal zu alt vor dafür. Ist es das, was Mussolini mal über Italien gesagt hat: "Man kann es regieren, aber es nützt nichts."? Glauben können gehört dazu.


Allmählich füllt sich der Laden. Ab und zu 'ne Frau dabei. Sieht sich interessiert die Bücher an; seltener kurzer Seitenblick. Nicht gleich anquatschen. Eine schreitet noch langsamer und lautlos, dreht die Füße leicht, wie ne Katze, ganz auf die Bücher konzentriert. Sarabande. Aber kein Blick. Na schön, dann erst mal in den Versorgungsraum und n Würstchen essen.


Denke dann, nicht wieder zu den Büchern. Die Zeit reicht für einen Spaziergang draußen. Diesmal nicht zur Straßenbahn runter, sondern rechts aufwärts an einem gewaltigen Plattenbau entlang. Stand etwas zurückgesetzt hinter fünfzehn Metern Wiese. Wahrscheinlich was für Gewerkschaftler, Lehrgänge oder so mit Großküche und Sälen. Hier vorn war der Hoteltrakt. Fassade hatte was Militärisches, besser in Schuß, als gewohnt. Lag sehr still, wie ein Studentenheim am Sonntag. Aus einem vergitterten Erdgeschoßfenster guckte eine Köchin. Massig und streng; eine vergangene Autorität. Waren damals die Chefs, jedenfalls in ihrem Bereich. Herrliche Zeiten, Zeiten genauer Regeln und Kompetenzen, fester Lebensrahmen, klare Ziele und Sicherheit. Man hat die Versorgung der Werktätigen gesichert, dadurch zum Aufbau des Sozialismus beigetragen und letztlich dem Fortschritt und dem Glück der Menschheit gedient. Was geschieht mit dem Gebäude? Anonyme Investoren, Streit um Besitzverhältnisse und Subventionen, Warteschleifen. Jetzt alles in Auflösung, desinteressierte Vorgesetzte, kühle Beamte. Mustert mich mißtrauisch, den einzigen Menschen in der Straße. Nicht mehr ganz so selbstbewußt, irgendwie erschüttert. Vielleicht doch keine Köchin, sondern Sicherheitsbeauftragte für Kochkunst, in Abwicklung.


Nach unten zur Stadt hin war das Alte. Schindeldächer, Ziegelbauten, Holzabfälle, sogar Wäscheleinen, Fensterhöhlen, riesige Löcher in den Mauern, die Dächer eingesunken, Mauern dicht und chaotisch gestellt. Nach dem Krieg wurde aus jedem Hof so eine kleine Manufaktur. Aber da war auch alles voller Menschen und diese Höfe sind verlassen. Mal ehrlich, was würde es bringen, Bürsten herzustellen, Schuhwichse oder Topfdichtungen? Das machen heut rationalisierte Großeinheiten für Pfennige vom Band. Dem Land wie gesagt ein Organisationsgrad übergestülpt. Macht individuellen Fleiß zur sinnlosen Bemühung.


Ich suche mir den Arbeitskreis Verkehr heraus, Zimmer 20. Hin und Her mit der Organisation, allein die Frage, was nun Zimmer 20 ist, wegen unklarer Beschilderung. So knapp zwei Dutzend Leute sammeln sich mit der Zeit, die letzten mit Stühlerücken und -hereintragen. Keine Heiopeis, sondern alle, obwohl sehr jung, hochqualifiziert. Verweisen auf Literatur, auf Forschungsarbeiten, auch eigene; manche sind Mitautoren von berühmtgewordenen Artikeln, zB im Spiegel, das Ding mit den Joghurtbechern. Einer der Mitautoren ist hier Vortragender. Hat einen teuren Filzhut auf seine Aktentasche gelegt und trägt einen echten Kaschmirpullover, doppelt gewirkt. Zum Schluß in Eile, ein international tätiger Manager, mit großer aber schneller Verabschiedung. Wie in meiner guten alten IBM, mal abgesehen von der knarrenden Routine - die hat er noch nicht.


Vor dem Fenster winken die Bäume unstet mit den Ästen hin und her. Es wird dunkler und dunkler. Dann Unwetter; Regen fällt wie ein Schleier vors Land; die Tropfen tanzen auf dem Blech. Zeitlose Zeit. Ich höre das Reden von Fern. Irgendwann erstrahlt wieder dunkel die Bläue.


Am Nachmittag ist Podiumsdiskussion in der Aula. Die Behördenvertreter habens schwer. Werden von jungen Fachleuten mit überwältigendem Zahlenmaterial und respektlosen Tönen so angemacht, daß sie kaum Zeit zum Luftholen haben. Der Moderator muß gelegentlich dämpfen, damit die Session nicht zur Beschimpfung wird. Ich seile mich vor dem offiziellen Ende ab, um rechtzeitig zu den Frauen ins Quartier zu kommen.


Draußen geht ein gewaltiger Platzregen nieder. Mit ein paar Wartenden und dem winzigen Schirm von Anne in der Hand stehe ich sprungbereit im Torbogen. Es will einfach nicht aufhören und die Pfützen werden immer größer. Rinnsale werden zu Bächen, der Schulhof zu Modder. Schließlich renne ich los. Die Straße ist ein Flüßchen, die Schuhe sind durch. Um die Ecke die Haltestelle ist nur durch fußtiefes Wasser zu erreichen. Im Wagen ziehe ich die Schuhe aus, gieße das Wasser ab und hänge die Strümpfe über den Handlauf. Es wird schweigend geduldet in schwächlicher Beleuchtung.


Scheinbar haben sie sich immer noch nicht entschieden. Ich lege die Eintrittskarten einfach auf den Tisch und sage, daß ich vorgehe, um Plätze freizuhalten.


Seltsam, so leblos die Straßen sonst waren, hier vor dem Theater ist plötzlich Leben und Erwartung. Im Rückblick kommen mir die Leute sehr dunkel vor, aber lebendig. Im Saal kann man sich die Tische noch aussuchen. Nein, Hofbräuhaus ist das nicht, eher Wartesaal. Die Tische, immer von vier bis sechs Stühlen umstanden, sind schwarz und einfach. Ich nehme gleich den zweiten vom Eingang, vielleicht etwas zugig, aber dafür nicht dem Zigarettenqualm so ausgesetzt. Lasse mich mit dem Gesicht zur Tür nieder, um die beiden Frauen nicht zu versäumen. Damit zeigt mein Rücken zur Bühne und ich kann in den verdunkelten Zugang sehen. Ziemlich bald werde ich gefragt, was ich trinken möchte, ein kleines Bier, aber lange sitze ich herum und beobachte die in Schüben Hereinkommenden. Es wird voller und folglich schwerer, die Stühle freizuhalten. Immer öfter will man wissen, ob sie frei sind.


Es mögen 500 Leute hier hereinpassen, wegen der ungünstigen Sitzanordnung. Da der Saal sehr hoch ist, Kabel und Maschinen gucken überall hervor, die ganze Decke ist voll davon, läßt er sich nur schwer ausleuchten und behält etwas düsteres. Neben den letzten Gästen drängen sich schon die Akteure in der Tür; offenbar soll ein Einmarsch erfolgen. Geschminkte Gesicher, überschöne Frauen, FDJ-Hemden, Plisseeröckchen. Ich bin inzwischen mit meinen zwei freien Stühlen ziemlich an den Gang gedrängt worden. Die anderen haben nämlich nach und nach weitere Sitzgelegenheiten aus fernen Ecken geholt und dazugestellt.


Anne und Vera haben noch eine jüngere Bekannte mitgebracht. Ihr Erscheinen war für mich eine Erlösung; sie taten allerdings, als wäre es rein zufällig. Wenigstens setzte Vera sich mir gegenüber hin; die beiden anderen meinten vorn noch etwas besseres zu finden.


Vera zündete sich gleich eine Zigarette an. Ich rückte ostentativ ab. Sie schien ebensowenig etwas zu merken, wie der Mann hinter mir, den ich deswegen angemacht hatte. Für die Ossis ist Rauchen noch eine Selbstverständlichkeit. Man erkennt am Rauchen, formulierte ich innerlich weiter, den Stand einer Gesellschaft. Am Rauchen und an den Frauen. Anne und Vera hatten fast immer nur zugehört, niemals jemanden unterbrochen. Wenn überhaupt, dann sprachen sie leise. Die Männer holten alle laut aus, wie bei uns. Noch schlimmer übrigens, was die Emanzipation anbetrifft, sind die Ungarinnen und Polinnen dran. Waren fast alle Ärzte und Ingenieure, hatten aber nichts anderes im Kopf, als sich mit irgendeinem Süffel zu verheiraten. Stellten anschließend Weltrekorde im Dauer-Ertragen von Herrschaft auf. Scheidung aber erst, wenn ER genug hatte.


Und nun der Einmarsch. Vera drehte sich zur Bühne um, ich rückte neben sie, aber nicht zu nah. Die Truppe dicht an uns vorbei, im FDJ-Hemd: "Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf..." Tabumm, tabumm, trara, Krach und Schmiß. Wurde teils mit Gelächter, aber nicht unfreundlich aufgenommen; nun mußte ja keiner mehr. Vorn gings erst richtig los. Da wurden die Mikrofone gereicht, mal zu nah, seltener zu weit vom Mund, aber immer mit Überlautstärke. Durch den Wechsel des Abstandes trotzdem schlecht zu verstehen, ein immerwährendes Gebrüll. Begrüßung und das ewige tolle Publikum.


Ein Witzeerzähler wie damals, Peppi Zahl hieß er glaubich. Nur auf sächsisch, Furcht und Hoffnung. Auch sehr ungeschickt mit dem Mikrofon. Entweder unverständlich oder an der Schmerzgrenze. Der Wessi war darin immer sowas ähnliches wie Graf Bobby und die alten Machthaber neue Direktoren. Wurden auch vorgeführt, wobei mehr die Korruption als die Unterdrückung eine Rolle spielte. Will sagen, ihr Wohlleben und ihre falschen Wohlstandsversprechungen wurden ihnen übler genommen als die Verhörmethoden oder die Justiz. Die Kellnerinnen in Krach, Finsternis und Rauch immer hin und her, viel Bier, viel Schnaps, weniger Cola, noch weniger Wasser, Riesentabletts.


Stahlhelm und Everglace, die Kultur der DDR. Ministerium für Volkserziehung, Abteilung Unterhaltung. "Tiritomba", "Ramona", "Eine weiße Hochzeitskutsche", "Heißer Wüstensand", "Chico, Chico, Charlie..." mit wippenden Röckchen und kleinen Blusen, mit Mädchenstimme und Schmollmund, Männerchor in weißen Hosen. Und dann wieder brachial in Uniform: "Die Partei, die Partei, die hat immer recht". Gilt als Parodie, glaubt mir hier keiner, daß das offizielles Liedgut war. Mußte ich vor vierzig Jahren noch auswendig lernen.


In die Bühnenecke wurde eine alte Wochenschau mit Ulbricht projiziert. Selten genug, daß ein Politiker durch seinen bloßen Anblick Gelächter erntet. Andrerseits faszinierend, wie so einer, gefährdet und gefährlich, durch das Minenfeld der stalinschen Zuneigung schlängelte. Auch die absolute Biegsamkeit, der vorauseilendste Gehorsam, sind nicht ohne Intelligenz zu bewältigen. Honecker wurde gezeigt mit Hut, dünnlippig lächelnd, scheinbar genauso sächsisch fistelnd, obwohl aus anderer Zunge. Irgendwas muß doch dran sein an diesen Figuren; zum Beispiel Ordensverleihung mit Mielke, linkisch trotz aller Brutalität - sonst nur für Honoratioren, nun die kleinen Freuden der Gerechten. Ab und zu sah ich zu Vera hinüber, sie sollte es merken, registrierte es auch. Sie brauchte nicht herzusehen; ich hatte erforscht, daß man die Einstellentfernung, also die Fokussierung fremder Augen erkennen kann, obwohl das aus normaler Distanz eigentlich nur mikroskopische Anzeichen sind. Frauen wissen das auch so, ohne Forschung.


Ringsum an den Wänden waren Losungen aus großer Zeit auf roten Tüchern befestigt: "Sozialistisch bauen, sozialistisch wohnen", "Kampf dem Wattfraß", "Martin braucht Schrott", "Wir bügeln nicht in der Spitzenzeit", "Chemie bringt Wohlstand, Schönheit, Glück", "Kunst hilft Kohle". Ich zeigte Vera die Losungen und schrie ihr fast unhörbar zu, daß ich die als Schüler auch mal gemalt hätte. Wenn sie lächelte, dann lachten ihre Augen.


Auf dem Heimweg redeten wir kaum. Meine lärmempfindlichen Ohren mußten sich erholen.


Vera und ihre Freundin saßen quer und ich stand in dem nun doch verdüsterten Raum, wo ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Es war spät geworden und ich sagte, jetzt geh ich ins Bett. Ich gab der Freundin die Hand, sagte Gute Nacht und Vera möcht ich mal streicheln, ging hin und strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. Ihre Weichheit und Glätte spürte ich noch lange. Das war der Höhepunkt unserer Beziehung. Ich ging nach oben in mein Taubenhaus und lag ziemlich lange wach. Aber nichts rührte sich.


Der Morgen war voller Selbstverständlichkeit und Licht. Fünf Personen saßen am Frühstückstisch. Der Kongreßteilnehmer mit dem Rucksack, Vera, die Freundin von gestern, Anne und ich. Preise, Postillen und Politik, er laut, ich bedächtig, die Frauen leise und wenig. Die Freundin und der Junge gingen bald. Wir sprachen über die Neustadt. Sie sei gar nicht so schlecht, meinten die beiden, schlimmer sei die Südstadt, überhaupt keine Infrastruktur. Möcht ich trotzdem sehen, sagte ich, ich mach mich einfach mal auf, sonst ist der Vormittag rum. Ging rauf, Jacke und Fotozeug holen, sagte auf Wiedersehen und machte mich auf den Weg zur Haltestelle.


Ich war gerade fünf Minuten gegangen und vielleicht noch fünfzig Schritte von der Straßenbahn entfernt, als neben mir ein Fahrrad rutschte. Vera stand da und hielt es schräg zwischen den Beinen. Ziemlich atemlos sagte sie, Anne und sie würden in die Neustadt, Haneu, fahren zu ihren Großeltern und ob ich dahin nicht mitkommen wollte, ich hätte doch das Viertel mal sehen wollen. Ja, natürlich, gern, sagte ich, was, und sogar Kuchen gibt es, das wird ja immer schöner. Sie lächelte kurz, ich komme runter mit Anne, in 20 Minuten vielleicht. Gut. Ich sah mich um: ich warte da drüben im Café.


Diesmal mußten wir von der Straßenbahn in den Bus umsteigen. Kaum über die Saale mit den grünen Ufern weg, begannen die Platten. Nicht so grau und kahl, wie befürchtet und auch verhältnismäßig belebt. Eigentlich kein Unterschied mehr zu den westlichen Slurbs. Im Gegenteil, alles noch eine Spur ruhiger und von der Bemalung und den Versorgungseinrichtungen her nicht ganz so brutal. Grasflächen und Bäume, so daß die Großeltern, obwohl im Erdgeschoß wohnend, immer noch auf ein einigermaßen helles Grün blicken konnten. Natürlich wieder die ganzen Arbeitslosen, Mieten und Kaufpreise, der Opa redete am wenigsten. Die beiden Rentner waren im ganzen zufriedener als erwartet, hatten einen moderaten Kaufpreis erlegt, so daß sie nun Eigentümer ihrer Wohnung waren. Auch der Kuchen schmeckte, weswegen ich ein besonderes Rezept vermutete, was auch der Fall war.


Ich weiß nicht mehr genau, wann Vera stiller wurde. Ich legte nie meinen Ehering ab und vermute, daß er ihr irgendwann aufgefallen war. Jedenfalls hatte ich sie später zum Essen eingeladen. Sie hatte damit geantwortet, daß sie die Freundin (oder war es eine Schwester?) von gestern abend dazulud. Wir gingen zu dritt um die Ecke zu dem Chinesen. Am Tisch unterhielten sich nur die beiden, halblaut und so, daß ich nichts verstehen konnte. Ich mußte entweder scharf zuhören oder mich im Raum umgucken. Irgendwann wandte sie sich an mich, das heißt, sie drehte nur ihren Kopf zu mir, ohne sich zu nähern und fragte fast unhörbar, Ihre Frau, hat die kein Interesse, fährt sie nicht mit Ihnen? Wozu groß überlegen, dachte ich und sagte etwas mühsam, nein, sie hat wirklich kein Interesse, die Zerstörung hier deprimiert sie so, aus Ostberlin ist sie regelrecht geflüchtet.


Die beiden wollten unbedingt selbst bezahlen. Auf dem Heimweg sah ich Vera zum letzten Mal.


Am nächsten Abend kam noch einmal Hoffnung auf, als der Junge, Anne und ich uns entschlossen, ins Kino zu gehen. Es gab "Cap der Angst" und ich dachte immer, vielleicht würde noch jemand dazukommen.


Man kann es zu Fuß erreichen. So finster hatte ich Halle noch nie erlebt. Es ist ein besonderes Kino sagte Anne, Sie werden schon sehen. Zuerst waren da noch die normalen Straßen, Gasfunzeln, schwarze Fassaden, teils eingeschlagene Fenster, ein Viertel von ihnen erleuchtet, der Himmel zu, wie gehabt. Mit der Zeit wurden die Straßen schmaler, die Lichter weniger und die Laternen seltener. Als wir die Hand nicht mehr vor Augen sahen, wurde das Pflaster besonders rauh und man mußte die Schlaglöcher erahnen. Warum nicht Kino so machen, sagte ich, zu Wilhelm Meisters Zeiten haben die Schauspieler sich selbst bedient, heut, ich bin fast umgefallen, hat unsere Oper über 500 Angestellte, jede Karte mit ein paar hundert Mark subventioniert, wozu? Ja, aber das sind doch ganz andere Stücke. Andere Stücke!? Keine besseren; hab mal vor 30 Jahren vom Living Theater die Zofen gesehen, nur ein Tisch undn paar Stühle, danach noch ne ganze Menge anderes Zeug, aber die hab ich als einzige behalten.


Unser sporadisches Reden ging halblaut hin und her. Die Fassadenreihen wurden öfter unterbrochen durch krumme Querstraßen oder abgeräumte Grundstücke. Dann versuchten wir mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen, um ihr Ende zu finden. Vergeblich. Bis wir an einen größeren Platz, eine ausgedehnte Grube mit unsichtbarem Grund kamen, wo wir beraten mußten. Während der letzten zehn Minuten hatten wir im Ganzen nur drei schwach erleuchtete Fenster gesehen. Anne meinte, der schwarze Block mit dem Lichtschein oben, da müßte das Kino drin sein. Also rechts um die Grube rum, an einem leblosen Eckhaus vorbei, ein Stückchen Pflasterstraße, und auf enttrümmertem Sandboden - der Krieg ist vorbei - immer tastend um die nächste Ecke. Jetzt enthüllte der Lichtschein seine Quelle, eine emaillene Scheinwerferschüssel, schräg und vier Stock hoch an die nackte, riesige Ziegelwand gehängt mit einer zweihunderter Birne darin. Was soll das denn, fragte ich, auf der Wand steht doch nichts. Na eben das Kino, sagte Anne, damit man es findet.


Rundgetretene Stufen, am offenen betonierten Klo vorbei in eine ausgeräumte überfüllte uralte Wohnung. Verkauf, Kontrolle und Technik befanden sich in Personalunion in der Hand eines jungen Mannes, der alles mit unpersönlicher Routine regelte. Kasse war die Schublade eins Küchentisches, ein Kühlschrank daneben spendete die Getränkedosen. Mehr als 15 Leute gingen in diese Propyläen nicht hinein. Ein schmaler Gang führte durch einen gut abgehangenen Vorhang in den Kinosaal. Dieser enthielt etwa 20 Sitzplätze verschiedenster Herkunft auf einem Podest, hatte die Größe eines normalen Wohnzimmers. Darüber einen Himmel von einigen durchhängenden Bettüchern, die wohl das Nichtvorhandesein einer Zimmerdecke verbergen sollten. Intellektuelle Élite raucht natürlich dermaßen, daß die Schwaden immer durch den famosen Vorhang hereinzogen. Ein ständiges Hin und Her hielt den Ofenbetrieb aufrecht, währenddessen ich den Eingang unauffällig unter Sichtkontrolle behielt. Schließlich fragte ich Anne, ob Vera nicht kommen könne. Die mußte weg, war die einsilbige Antwort.


Cap der Angst war ein amerikanischer Gruselschocker der neuesten Machart. Ab etwa dem ersten Drittel wird einem ununterbrochen auf den Nerven herumgetrampelt. Die Protagonisten erleiden eine derartige Folge von Schrecknissen, daß nach einer weiteren Viertelstunde ein Abstumpfungseffekt sich breitmacht. Nach Ablauf dieser Zeitspanne hätte unsereiner längst in Behandlung gemußt. Die psychologischen Stehaufmännchen im Film allerdings kriegten zwar immer verschmiertere Gesichter, schienen aber sonst nicht weiter angegriffen. Das hatte was vom Mickymausfilm und war schließlich nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Lästig war nur, daß der Terror auch durch Licht- und Lautstärke getrieben wurde. Auf dem Rückweg ließ ich mich so oder ähnlich darüber aus und erntete allgemeine Zustimmung.


An der finstersten Stelle war weit und breit nur ein einziges funzelndes Fenster zu sehen. Ich blieb stehen und sagte, wie nach der Neutronenbombe, bloß den einen habense vergessen. Gemeinsam überlegten wir, irgendwo noch was zu trinken. Laßt uns mal gucken, sagte der Junge, hier muß der Sargdeckel in der Nähe sein, nee, ja, so heißt die Kneipe. War damals immer überfüllt, sone Art Treff der kritischen Geister. Aber Enttäuschung auf der ganzen Linie. Nicht mal die Bierwerbung war erleuchtet. Dicke, kalkige Bretter vor die Tür genagelt, winzige verstaubte Fenster, Finsternis und Totenstille, nun wie im richtigen Sarg. Wo sind die kritischen Geister, fragte ich. Alle bei der Frankfurter Rundschau, sagte er.


Er hatte sein Quartier im ersten Stock und verschwand als erster. Ich brachte Anne in ihre Wohnung im zweiten. In der Küche putzte ich mir die Zähne, bevor ich hinaufging zu meinem Boden. Sagte ihr noch gute Nacht. Sie saß ziemlich lang in einem Sessel. Ein paar langsame Sätze. Das Zimmer war von einer schwachen Birne an der Decke erhellt, machte es groß und grau. Einen Moment meinte ich, sie fragen zu müssen, ob sie unbedingt allein sein wollte. Mir fehlte aber die Kraft dazu.


Oben angekommen, blieb ich einfach in der Mitte des Zimmerchens stehen. Weiß nicht, wie lange. Gegenüber ging das letzte Licht aus. Eine ferne Musik hörte auf zu spielen. Wie Watte legte sich die Stille auf meine Ohren.