Dreißig Spots oder

biografische Daten




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Damals war die Wohnung so dunkel, hatte einen durchgelaufenen Teppich und schwere braune Möbel. Besonders der lange Flur nach hinten war völlig lichtlos, die rote Stofflampe in seiner Mitte immer zu schwach. Hier war er das letzte Mal entlanggekrückt und dann im großen Zimmer krachend zusammengestürzt. Der herbeigerufene Notarzt konnte, wie es immer heißt, nur noch den Tod feststellen. Schwer und groß und gewölbt lag er in der Düsternis und die Herren des Institutes wollten sich allein an ihm zu schaffen machen. Aber meine Mutter ließ sich nicht vertreiben, schickte nur uns hinaus.


Dann kamen die Wanderjahre. Ich umrundete auf der S-Bahn den Ring und brachte von da das Bild riesiger abendsonnengeröteter Backsteinfassaden mit. Oft stand mir ein Mädchen gegenüber im Türbereich. Damals glaubte ich noch, man müßte etwas Kluges, Humorvolles sagen, um Kontakt zu bekommen. Natürlich war ich unfähig, das Schweigen zu brechen.


Erst als das eigene Ende in den Bereich des Möglichen rückte, konnte ich mich etwas befreien. Ich erreichte einen gewissen Grad von Zufriedenheit, der sich auch in der verwandelten Wohnung spiegelte. Jetzt waren die Zimmer groß und weit und nur wenige, aber bequeme Möbel standen an den Wänden. Die Vergangenheit zeigte sich unten hinter den großen Fenstern als ein Konglomerat aus langen, kreuz und quergestellten Bahnhofshallen und vielen Schienen. Vielleicht waren die Gleise da ein wenig zu grau, aber ich entsann mich an jene anderen, die halb im sommerlichen Kiesbett versanken. Sie führten an bunten Wiesen entlang, über steinerne Bogenreihen und ließen ferne Hügelketten blauen. An den Schwellen wuchs zartes Grün, manchmal mit kleinen Blüten durchsetzt. Es war so still, daß die Vermutung aufkam, die Verbindungen zum Landesnetz wären gekappt worden. Ich ging durch die schön gewordene Wohnung. Von draußen warf eine jener warmen Ziegelwände ihr rötliches Licht herein. Niemand war da, der mich beunruhigen konnte; für niemanden mußte ich mir etwas ausdenken.


Doch... lehnte sie nicht da an der Türfüllung? Manchmal deutlicher, manchmal weniger, mit sanft wechselnden Konturen? Sie schrieben Wellenlinien wie die durchsichtigen Säume von langsamen Meerestieren es tun. Ganz unbefangen, ganz sicher sprach ich sie an. Sie schien zu nicken, wandte sich mir zu, dann lächelte sie und erwiderte freundlich und achtungsvoll. Achtungsvoll? Das war es nun auch wieder nicht, was ich wünschte...


So also ging das Leben vorbei.



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Morgens war der Himmel in Bewegung geraten. Die schwarzen Äste schlugen aneinander. Kaum ein Schneefetzen bedeckte mehr den schmierigen Asphalt. Ich kann nicht sagen, was mich mehr traf: mein 28. Jahr, das sich zum Vorübergang anschickte, oder die weitsichtige Luft, die die halbleeren Straßen verlängerte bis dahin, wo goldgepudertes Samtgrau aufstieg und sich in langen Fahnen auf Karmin und sternlosem Flaschengrün auseinanderdrehte. Jeder Schritt ließ mich emporschweben; ich mußte nur darauf achten, daß ich nicht in die gekreuzten Fahrleitungen der Straßenbahn geriet. Erst war mir, als würde ich Wichtiges versäumen, doch dann gelang es mir zu meiner Überraschung, auf dem kleinen Akkordeon die Klänge eines lustig-mißge-tönten Walzers hervorzubringen.


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Das Meer um uns hatte die grauenhafte Schwärze des

Weltalls angenommen. Den vorletzten Nachrichten zufolge

konnten wir kein Land mehr erreichen; die letzten vor dem

endgültigen Abbruch der Kommunikation besagten, daß es

kein Land mehr gäbe. Die Wellen, die immer drohender

zogen, versetzten unseren nachtweißen

Vergnügungsdampfer in ein unangenehmes Wiegen.

Trotzdem tanzten wir, ein Dutzend Verbliebene, zwischen

Papierschlangen und Luftballons, langsam aber

unaufhörlich. Die Frau war üppig, nein nicht fett, üppig nur

bezogen auf das Sexuelle, auf Lippen, Brüste, ihre Wärme und die

unglaublich beweglichen Hüften, die sanfte Schlangenlinien

malten. Alles an ihr forderte und sog, nur die

schwarzumschminkten Augen hielten Distanz. Gelegentlich

schien sie etwas zu suchen und ich versuchte, ihrem Blick zu

folgen. Aber irgendwie, will sagen rätselhaft und allmählich

verschwand das Weiße aus ihren Augen, so daß keine

Orientierung möglich war. Ja, sie wurden dunkler und

dunkler, sie wurden schließlich zu Höhlen, Höhlen, erfüllt

vom absoluten Nichts. Aber dann doch in ihrer Tiefe eine

schwache Bewegung, ein kaum wahrnehmbares

Phosphoreszieren, das die steigenden Schaumkronen

selber hervorbrachten, weil nicht einmal Sternlicht

zur Verfügung stand. Ich meine die Schaumkronen

auf den langen, bitteren, grundlosen Wogen.



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Unser Abendspaziergang führte uns eine schmale, glatte Straße zwischen Zypressen aufwärts. Am Weg war eine Grotte aus Bruchsteinen aufgeführt worden, wo unter Blumensträußen ein paar schwache Kerzen flackerten. Obwohl sie von der tiefstehenden Sommersonne überstrahlt wurden, hatte das Söhnchen sie entdeckt.


„Ihm das sagen - wofür die Kerzen da sind?" ,,Für die Toten, zur Erinnerung, damit man an sie denkt." „Warum denn die Leute gestorben sind?" „Vielleicht waren sie alt und müde oder sie waren krank - sie könnten auch einen Unfall gehabt haben." „Welchen Unfall?" ,,Na - sie könnten zum Beispiel in die Steckdose gefaßt haben." „ - Mami ist nicht alt - was macht die Frau?" „Nichts, ich weiß nicht ... die ist aus Steingut." „Aber was könnte sie machen, wenn sie nicht aus Steingut wäre?" Vor der Grotte kniete eine tönerne Maria, rot und weiß wie ein Gartenzwerg bemalt. Und in Abständen von etwa zwanzig Metern folgten einzelne Bildsteine, in die die Stationen des Kreuzweges gemeißelt waren. Alle Bildnisse hatten die Gesichter mit dem Ausdruck tiefer, schmerzloser Tragik aufwärts gewandt. Nachdem der Weg eine halbe, enger werdende Kurve beschrieben hatte, breitete er sich in einen asphaltierten Platz aus. Er endete im Himmel und war eingefaßt von weißen, glatten, ja feierlichen Quadermauern. Die letzten Meter hatte der Kleine sich tragen lassen; nun lief er schon wieder die breiten marmorhellen Stufen hinauf. Er war durch ein gewaltiges Eisentor verschwunden, während wir noch rieten, was sich dahinter verbarg.


Die Wolken, unsere künftigen Galerien, bevölkerten still das grundlose Blau und vor ihnen zogen die marmornen Seligen, statt ihrer bewegt, langsam wie vom lauen Wind getrieben - mit ihren ruhevollen Steingesichtern zogen sie vorbei. Obwohl sie nichts taten, was uns irgendwie verpflichten könnte, fühlten wir eine leise Nötigung von ihnen ausgehen. Wir wehrten uns aber erfolgreich dagegen und überließen uns der Schwerkraft, die uns half, im Leben zu verbleiben.


Der Innenplatz glich nach Größe und Form dem langgestreckten Viertel eines Fußballfeldes und war vollständig mit sauberem Splitt ausgestreut. Er enthielt keine lebende Pflanze und wurde bis auf das Tor lückenlos von diesen blendenden, unübersteigbaren Mauern umschlossen. Das Söhnchen spielte in der Mulde eines Splitthaufens, als wir es erblickten. Ratlos und etwas befangen standen wir vor einer überdachten Wand aus polierten Steinplatten. Da waren Namen eingemeißelt, in kleinen schwarzen, ovalen Rahmen Fotos aufgehängt und Halterungen für Vasen und Lämpchen eingelassen. Den Zweck des Bauwerkes verrieten uns die fehlenden Platten. Sie ließen den Blick in quadratische Öffnungen frei, die so tief waren, daß man gerade einen Sarg hineinschieben konnte. Weder die Särge noch die Steinplatten konnten den süßen Urinduft aufhalten, dessen Schwaden über dem ganzen Friedhof lagen.


Mit unterdrücktem Schauder schritten wir Nischen, kleine Sonnenhöfe und Altäre aus Betonstein ab. Trotz des ungeheuer blauen Himmels faßte mich der Ekel. Faulte nicht meine eigene Leber inmitten all der Leichen? Bildete sich nicht ein weicher Pfropf in meinem Blut, um den das Herz sich mit einem Krampf zu schließen drohte? „Komm, wir gehen."



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Das kahle Hotelzimmer lag zur Landstraße nach Verona hin. Zwar hatte der Chef des Hauses, der sonst alle Aktivitäten seiner Frau überließ, uns beiläufig wissen lassen, daß der Verkehrslärm gegen acht Uhr zu Ende sein würde; aber noch um halb zwei heulten und krachten die Lastwagen in so dichter Folge vorbei, daß es keinen Moment der Stille gab. Buchstäblich zitterten die Scheiben und uns war zumute, als liefe die Straße mitten durch unser Zimmer. Kaum daß ein Fahrzeug vorbei war, kündete ein hohes Summen in der Ferne das Nächste an. Auch wenn dies Geräusch für Augenblicke schwächer wurde, auch wenn man sich das Kissen an die Ohren preßte - es schwoll unerbittlich zu einem tiefen, harten Brummton an und erst nach krachendem Schaltvorgang und einem wilden Aufbrüllen entfernte es sich wieder.


Aber alles hat eine Ursache und so klärte sich auch dies: Nach dem Regen schien eine tiefgoldene Tagessonne durch das Blattwerk der Galerien. Dort saßen aus Vorzeiten die Mitschüler Burkhard Thiele, Adolf Römer, Kresse und Seiler und riefen und winkten mir zu. Ich ging durch die freundliche Menschenmenge und die Säulen in das Gebäude. Durch Gänge und über Treppen mit großen warmgetönten Fenstern gelangte ich aufwärts. Als mich die Nachricht von ihrer Ankunft erreichte, hatte sich der Bau fast geleert. Die letzten Angestellten kamen mir im Laufschritt und mit aufgelösten Gesichtern entgegen.


Ich stieg weiter bis in die gewaltige Kuppel, an deren Innenwänden wieder Galerien und Treppchen emporliefen. Seitlich öffneten sich Nischen und Erker - durch ovale Fenster sah ich auf ein Meer von Schindeln. Bei einem solchen Durchblick hatte ich sie entdeckt. Über ein ganzes Dach hinweg klammerte sich mit knotigen Gelenken und langen Stachelhaaren, armdick aus rauhem, schwarzem Gußeisen gemacht, die riesige Extremität einer Spinne. Ihre langsame Kontraktion ließ die Schindeln splittern. Nichtsdestoweniger hatte sie an ihrem Ende eine lange, schmale Frauenhand. Ich trat lautlos seitwärts in eine Nische.


Als junge Frau erschien sie auf der Freitreppe. Der ganze Raum gehörte ihr. Jeder ihrer leichten Schritte brachte das Gewölbe zum Zittern. Sie summte vor sich hin, doch der Klang der ihr entströmte war so mächtig, als käme er aus einer stahlumspannten Brust oder einer Glocke.


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Im Schatten zwischen Sandsteinmauern hielt sich eine Zahl von dunkel gekleideten jugendlichen Personen auf. Ich hatte mich nach langer Zeit wegen einer notwendig gewordenen schriftlichen Bestätigung hier eingefunden und ging nun langsam in dem fast schwarzen hochgewachsenen Gras hin. Ein Teil der Personen hatte sich unter den Kolonnaden in lockerer, ruhevoller Warteschlange aufgestellt. Ich reihte mich ein und gelangte, gelegentlich angelehnt oder auf einer Fensterbank sitzend, in das Dunkel der weiten Innenräume. Als mir mein Zertifikat überreicht wurde, war ich aus mehreren Gründen nicht imstande, es durchzulesen. Am schwersten wogen darunter die überstandenen Ängste; aber auch Trägheit und mangelndes Licht taten das ihre.


In einem Raum auf der anderen Seite des Ozeans war ich mit dem Ausfüllen der Bögen beschäftigt. Sie saß an der Schreibmaschine und ich diktierte. Nach einigen Zeilen ließ ich mir das Blatt reichen und trat damit ins Licht. Da sah ich, daß freundlicherweise alles vorgedruckt war, was wir geschrieben hatten. Nun standen die Fragen doppelt da, aber ohne die Antworten. Ich steckte das Papier weg und versuchte, es vorläufig zu vergessen. Nebenan hatten der Kollege und ich ein Tischchen, auf dem wir unsere Präsentation vorbereiten konnten. Als ich meine Tasche auspackte, stellte ich fest, daß vom Vortrag der wichtigste Teil fehlte. „Was nun?" sagte ich. — Der Kollege hatte zu seinem Glück ein anderes Thema. ,,Sie hatten ihn doch auf den Schreibtisch gelegt," sagte er ohne Ärger. „Dann mache ich die Konfiguration an der Tafel ... mit Kreide . . ." überlegte ich. „Wenn Sie meinen, daß das klar wird..." sagte er, während er bereits seine Unterlagen ordnete. Ich sortierte die Blätter wieder um und ging dann die Kreide organisieren.


Das war ein langer Weg. Zweimal acht Stunden heiße Autobahn und hinter dem Brenner die gleiche Strecke - noch heißer, noch enger. Und dann wirkte der Zauber des Papiers. Ich lag ich rücklings auf einer Luftmatratze, hatte das Söhnchen zwischen den Beinen, das aufrecht am Kopfstück lehnte und die Zeit stand still. Ab und zu läuft das Wasser über die Seiten und verteilt sich kühl unter Schultern und Rücken. Gegen die Sonne gesehen tanzt auf den Wellen ein Meer von weißen Flämmchen. Ein Blick in ihre Blendung läßt den Strand in dunklem Braun erglühen und die Buntheit der Menschen und Schirme wie hinter

Flaschenglas wallen. „Pappi, ihm das sagen, warum er zu dem Boot will." „Weiß ich nicht," murmele ich „das weiß er doch nur selber." „Pappi, warum könnte er dahin fahren?" .. . „Vielleicht, weil er das Steuer sehen will." ,,Warum könnte er noch dahin fahren?" „Ich fahr' ja schon." „Weil es schön ist!"


Langsam breite ich die Arme aus und ziehe sie durch's Wasser. Ich schiebe mich vor, bis meine Haare naß werden und ich das Ziel im Auge habe. Um zwei langgestreckte leichte aber unbewegte Federwölkchen öffnet sich das Blau, ein Abgrund nach dem anderen. Nun habe ich als Himmel die Wellen und sehe kopfüber das bewimpelte Boot. Es setzt sich in Bewegung und im selben Augenblick beginnt mit jubelndem Aufschwung eine Klarinette zu spielen. Sie spielt hell wie Kingstein auf salzigen Felsen und voll wie uraltes Holz von Oliven, sie singt von der Morgenfrische im ersten Feuer der Sonne.



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Wir bestiegen die graue und wacklige Straßenbahn, wo Felswände die Straße auf einer Seite begrenzten. Sie fuhr ziemlich lange zwischen dieser Wand und graubraunen gleichförmigen Fassadenreihen hin. Dann wurde das Land flacher und die Fahrt ging sanft abwärts. Nach einigen Baumgruppen kam ein Wäldchen und wir erreichten einen Platz, der kaum bebaut und menschenleer unter einem dichtbewölktem Abendhimmel lag. Will sagen, still lag er da. Nach einigen suchenden Kopfbewegungen, noch auf der Treppe stehend, verließen wir den Wagen, obwohl niemand von uns den Weg genau kannte. Den Einheimischen glaubten wir so verstanden zu haben, daß wir die Fahrt mit der Nummer 4 fortsetzen sollten.


Nun liefen auf dem Platz zwar eine Unzahl von Gleisen zusammen, aber alle waren so rostig, daß ich mir wenig Hoffnung auf das Erscheinen der 4 machte. Ich beredete einen Zweiten, mit mir im Auto zu fahren.


Wir jagten ungehindert durch die langen Straßen, bis zu dem stillen grünen Stadtkanal. Das Wasser war träge, fast zäh, wahrscheilich infolge des dunklen Algenschleims, der es zusammenhielt. So unklar die Einladungen nämlich bezüglich des Treffpunktes abgefaßt waren, so deutlich, ja dringend betonten sie den Zeitpunkt. Wir fuhren langsamer, hielten an der Kaimauer und stiegen aus. Nach drüben sahen wir in enge Straßen hinein, die uralte Feuchtigkeit hielten. Erst aufwärts, wo sie endeten wurde die Bebauung heller und moderner.


Eine streifende Sonne schien auf Pflaster und Fassaden. Jetzt zog dort leichtfüßig aber in strenger Marschanordnung eine Kolonne junger Leute auf. Alle waren in leichte gelbe Uniformen gekleidet; die Mädchen trugen kurze Röcke mit hellgrünen Gürteln, die Jungen eine Art Sportanzug. Trotz der gleichförmigen Kleidung sah man ihnen an, daß sie eine Würde oder ein Privileg innehatten. Das war noch deutlicher zu spüren, als ein Mädchen in einer ähnlichen aber schlichteren Tracht aus verwaschenem Grün auftauchte. Ihr fehlte die Sicherheit der anderen; dafür war ihr Gesicht starr und den Tränen nahe. Sie lief plötzlich auf die Kolonne zu und versuchte, sie von der Seite her zu durchbrechen. Es gab ein kurzes Getümmel. Als es sich auflöste, sah man das Mädchen auf der Straße knien. Einige der Gelbuniformierten zeigten sich hilfreich, indem sie Flaschen und kleines Gerät zusammentrugen und vor sie hinstellten. Die Flammen waren in ihrer Blässe kaum wahrzunehmen. Als das Unangenehme vorbei war, glaubte ich das Mädchen tot. Tatsächlich neigte sich sein Oberkörper langsam nach vorn. Ganz nah sah ich jetzt das Gesicht. Die Haut war glänzend und feinblasig, wie von geschmolzenem Glas. Die Starrheit hatte sich gelöst, das Gebilde machte den Eindruck von Ruhe, Ebenmaß und Gleichgültigkeit wie ein Stück seltener schöner Keramik. Durch leichtes Hin- und Herrücken hatte ich es gelockert und ganz aus dem Erdreich gezogen. Mit dem Ballen strich ich die feuchte Erde ab und polierte mit dem Ärmel nach.



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Vom Ziegelsplitt des abgeräumten Marktplatzes stieg der leichte Dunst eines Sommerregens auf. Die Rückfronten der größeren Häuser zeigten ihr eintöniges unverputztes Mauerwerk, unterbrochen von einigen kühlweißen Fassaden mit windschiefem Fachwerk. Dahinter lagen kleine Obstgärten und hinter denen kamen schon die ersten Bauernhäuser. Wegen der Dilatation der Zeitachse lag dort alles in tiefem Schnee - sogar die Zaunspitzen hatten weiße Hütchen.

 

Im Lauf der Jahre war Tante Lisa zwar nicht schöner geworden, aber eine lustige Person geblieben. Sie hatte noch viele sprechen hören von denen, die hier lebten, damals. Am Leib trut sie immer ein Erinnerungsstück - Lederbändchen oder geschliffenes Glas. Sprunghaft und lachend, manchmal auch weinend, erzählte sie von den vielen Toten.



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In dem diffusen grünen Tageslicht hatte ich ein weitläufiges Parkland durchquert. Als ich ans Wasser kam, wurde die Luft noch dichter, so daß die entfernten Kaimauern und Hafenanlagen mit ihr in eins verschwammen - es gab keinen Horizont. Auch die scheinbar asphaltierten Pfade hatten die Farbe des Himmels und des Wassers. Dazu waren sie spiegelglatt wie aus gewärmtem Eis. Von den leichten Wellen wurden sie zwar überspült, doch waren sie wenigstens auf einer Seite mit Geländern gesichert.


Vor mir auf den Steinen lag ein merkwürdiger Hai. Sein Leib war schwarz und rund wie der eines Delphins, doch verriet ihn sein waffenstarrendes Gebiß. Ich hielt Abstand, erwiderte seine Anrede aber nicht unfreundlich und wechselte mit ihm einige Sätze über das Wetter und den weiten Weg. Nachdem ich ordentlich gegrüßt hatte, ging ich in einem leichten Bogen an ihm vorbei. Ich ging nicht direkt an's offene Wasser, sondern mehr in Richtung auf die undeutlichen Kaianlagen zu. Aber der Pfad wand sich und obwohl andere Pfade immer näher kamen, strömte immer tieferes Wasser zwischen ihnen.


Ich brauchte nur durch das warme Grün zu schwimmen, um weiterzukommen. Aber ich sagte mir, daß hier extreme Vorsicht geboten war. Wie schnell konnte ein belangloses, wenn auch nicht unfreundliches Gespräch vergessen sein?



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Beim Nahen der Stunde Null waren wir barfuß auf der Flucht. Wir kletterten aus den Ruinen und liefen kilometerweit durch den heißen braunen Sand, bis wir zu dem Sumpfland gelangten, wo der Rückzug steckengeblieben war.


Obwohl hier schon zahlreiche verlassene und zerstörte Militärfahrzeuge an den Wegrändern versanken, hatte noch jeder Wehrfähige seine Uniform an. Briefmarken, Grußordnung, Geld und Ehrenzeichen hatten ihre Gültigkeit behalten, sogar Instrumente für die Militärmusik wurden vorbeigetragen. In finsteren Tempeln blakten die Opferflammen und lange schwere Fahnentücher wallten zum Heldengedenken.


Wir liefen jetzt durch den dichter werdenden Wald, bis wir plötzlich in dunkelgrünes Flußwasser hinabsahen. Hier war eine aufwendige Bergungsaktion im Gange. Zwei Dutzend Soldaten in fremden Uniformen und einige Froschmänner versuchten mit schwerem Geschirr einen Panzer ans Ufer zu ziehen. Wir Kinder standen auf den Resten einer Fährbrücke, ohne daß man uns beachtete. Ein Froschmann tauchte aus dem tiefen Wasser auf und herrschte mit kurzer Handbewegung nach einem Stahlseil. Mehrere Taucher erschienen nun, das Wasser schäumte auf und knirschend kamen Teile einer maschinenhaften Rüstung an die Oberfläche. Nachdem das Monstrum grollend auf Deck abgesetzt worden war, begann man mit armlangen Schraubenschlüsseln an ihm zu arbeiten. Ein Stück nach dem anderen klirrte auf die stählernen Planken. Ich wandte mich ab und ging ein paar Schritte seitwärts, um nicht plötzlich dem Anblick scheußlicher Verwesung ausgesetzt zu sein.


Doch als der Helm herunterpolterte, zwang mich eine schwache Kraft zur Umkehr. Zwischen den Rücken der arbeitenden Soldaten sah ich Gesicht und Oberkörper der Gestalt, die gerade freigelegt wurde. Ihre Uniform war zerfallen, aber sie lebte und hatte die helle glatte Haut einer Schaufensterpuppe. In ihrem länglichen Gesicht zog sich ein kasperhafter Lächelmund von einem Ohr zum anderen. Ängstlich lächelnd blickte sie aufwärts. Mit wasserhellen wachen Augen blickte sie von einem zum anderen, als suchte sie wieder eine Chance.


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Den neuen Kontinent hatte ich früher schon einmal weit unter mir gesehen. Zwei riesige gelbe Sandinseln - Nord- und Südamerika - lagen im blaugrauen Meer.


Vorangestellt sei, daß die Angst vor der vermeintlichen Nähe des Todes sich gezeigt hatte gelegentlich unerbitterlicher Warnungen aus jenem Reich. Vorboten wie zum Beispiel Flimmern vor den Augen, Husten oder ungünstige Horoskope nahmen mir zeitweise alle Lebenskraft. Besonders aus dem Haus am leeren Strand, das außen gelb gestrichen, dessen Wände aber aus schwerem kalten Naturstein gesetzt waren, kannte ich solche Zustände.


Nun aber hatte ich meine Leute in das neue Land geführt und durfte wie einer der hartköpfigen Pilgerväter auf die Knie sinken. Ringsum verlor sich die kühle staubige Ebene des Kontinents im Nebel. Das Erreichbare war erreicht. Er konnte kommen. Aber wo waren sie geblieben? Loslassen - wer nicht da war, konnte auch nicht fordern: erblassende Verantwortung. Nur, war denn überhaupt jemand jemals da auf dieser Sandbank, die kein Meer hatte bis zum Horizont? Sogar jegliche vorgeschichtliche Siedlungsspuren fehlten. Doch, irgendetwas... aus unbestimmten Richtungen, wenn auch von weither, schienen sich vereinzelte Wesen, noch nicht größer als Ameisen, zu nähern. Hilfe war unterwegs. Die Ängste schwanden und machten einem Gefühl von Erlösung Platz. Eine völlig neue Erfahrung schien in den Bereich des Möglichen zu rücken.



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Wir wateten in den trüben schnellfließendcn Fluten eines steinigen Flußbettes herum. Nah und fern gab es einige Zuschauer. Die Leute in der Nähe hatten etwas von Heimat - wegen ihrer rückständigen Freundlichkeit - doch der Ort war möglicherweise an den Tiber oder noch eher in die Auvergne zu verlegen. Wenn man die Ufer erstieg, strich über das weite, spärlich begraste Hügelland nur der Wind und bis zu den Horizonten war nichts und niemand zu sehen als diese stillen Wellen. Eine zerfallene Bogenbrücke stand im Wasser und auf der Seite, wo sie das Ufer erreichte, erhoben sich mehrstöckige aber primitive Holzhäuser. Da fand ich auch das verdunkelte Zimmer mit dem kleinen, soliden Tisch in der Ecke. Nacheinander hob ich die Gläser mit der schweren klaren Flüssigkeit an das schwache Licht. Erst beim letzten, dem Vierten, sagte sie, die halbverborgen, majestätisch im Dunkel saß: „ja - ich glaube, das ist es, mein Glas, danke sehr."


Später saß ich ihr in dem kleinen Raum gegenüber. Das aufgeregte Zirpen eines rückwärts laufenden Tonbandes war zu hören. Langsam hob sie den Kopf aus ihrer Schwere. „Der Führer konnte das - er konnte das so schnell sagen - was da gemeint ist." Die Uhren tickten und die Spinnweben wuchsen wie in einem Horrorfilm. „Willst Du damit sagen, er hat das alles gewußt?" Sie sah abwesend in ihr Glas und murmelte nach einer Weile: „ja".


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Von Oma Möbius wußten wir, daß der Panna oder Panner ein uniformierter Forstbeamter war, der die Kinder an den Ohren zur Wache zog. Da wir ihn niemals leibhaftig gesehen, aber immer ein schlechtes Gewissen hatten was die Anlagen betraf, hatte er in unserer Vorstellung allmählich die Dimensionen eines Ungeheuers angenommen. Auch die anderen Kinder schienen nichts mehr zu fürchten, als ihn und der Schrei: „Der Panner, der Panner!" versetzte uns jedesmal in solchen Schrecken, daß wir kopflos davonjagten.


Die Begegnung fand erst statt, als seine Welt schon im Untergehen war. Wegen der zunehmenden Bombenangriffe konnten wir immer seltener in den Anlagen spielen und zum Teufelssee, in dessen nie besonntem Spiegel letztes Jahr noch unsere Borkenschiffe fuhren, kamen wir nicht mehr hin. Aber schon an den abschüssigen Pfaden beim Denkmalsberg standen Bäume und Büsche dicht genug fürs Räuberspiel. Ich saß in einem Fliederstrauch und schlug voller Mutwillen mit einem angerosteten, beilschweren Bombensplitter auf den Stamm ein. Die Rinde riß auf und legte eine weiße feuchtglatte Holzwunde frei, von der man den süßen Saft lecken konnte.


Ich war so vertieft, daß ich erst beim zweitenmal den Schreckensruf hörte. Rasendes Fußgetrappel unterstrich den Ernst der Lage. Wie gestochen schoß ich aus dem Gebüsch und flog um Haaresbreite an einer hoch aufgerichteten schattenhaften Gestalt vorbei. Obwohl ich erst zusammenzubrechen glaubte, jagte ich im nächsten Augenblick mit den längsten Schritten meines Lebens davon. Dabei hatte ich eine dunkle ruhige Stimme noch sagen hören: „Aber Kinder - muß das denn sein?"



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Unser altes Haus hatte sich in eine kleine finstere Burg verwandelt, obwohl in knapp 200 m Entfernung die viergleisige Strecke der Eisenbahn sich in den unübersehbaren, geheimnisvollen Bereich des Betriebswerkes Rummelsburg auffächerte. Um es zu verlassen, genügte es diesmal nicht, den Gartenzaun zu überklettern. Ein Gang in schwarzer, glitzernder Erde führte erst mit leichter Neigung abwärts und nach sanfter Ausrundung wieder hinauf. In weitem Abstand brannten die wenigen schwachen Laternen auf dem Blockdamm. Ich war den elenden, störrischen Revolutionären entkommen, hatte den Tunnel hinter mir gelassen und die Gleisanlagen auf der langen Brücke überquert. Hier aber kam ich ins Stocken. Eine lockere Reihe von sieben Uniformierten hatte sich quer über die Straße verteilt. Ihre hellblauen Uniformen waren kaum zu erkennen, doch die Helme schimmerten sanft in der Finsternis. Halblaut besprachen sie ihr Heldentum: „Die Begriffe von viel und wenig sind mir so unwesentlich geworden." sagte einer. „Dann liebst Du nur noch die Weite der Horizonte," erwiderte der andere. Hinter ihnen war mein Weg durch eine Querstraße abgeschlossen, die nach rechts in die stille Bahnhofsallee mit den kleinen alten Kellerläden und nach links zu den Gartenhöfen hinabführte. Ich befand mich noch auf dem rechten Bürgersteig und ging langsam auf die Reihe zu. Die Behelmten brachen ihre Unterhaltung ab und gingen mit kurzen Schritten hin und her. Ich verzögerte erst, bog etwa 5 m vor ihnen ab und ging dann schräg über die Straße.


Jetzt hatte ich sie hinter mir. Ich ging nach links zu den Gärtchen hinab, so schnell und geräuschlos ich konnte. Hier brannten überhaupt keine Laternen mehr. Nur die Erinnerung verriet mir, daß bald die niedrigen Büsche kommen mußten, in die wir als Kinder unsere Fahrräder gelegt hatten. Bis in die Nacht jagten wir damals keuchend durch den schweren Boden unserem Ball hinterher. Etwas später würde die Straße in einen Schlackenweg mit langen flachen Stufen übergehen. Und dann mußte das verfallene Villenhaus jenes alten Ehepaares kommen, das aus rostigen Wasserhähnen seine Blumenbeete tränkte. Als ich mich umdrehte, sah ich im trüben, begrenzten Laternenschein die kleingewordenen Uniformierten. Noch fürchtete ich, auf eine zweite Wache zu stoßen aber lautlos waren die Nachbarn aus dem Dunkel gekommen. Wir standen schweigend aber beruhigt beieinander und sahen hinauf nach den undeutlichen Gestalten.



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Die neuen Hochhäuser waren völlig weiß, und wenn man die

regelmäßigen Reihen der Fcnsterquadratc zusammenzählte, kam man

bestimmt auf fünfzig bis hundert Stockwerke. Die Sonne schien so

hell, daß die Bauten durchsichtig wurden. Sie bogen sich dort oben

und begannen im Winde zu wiegen. Wir besichtigten unsere neue Wohnung. Sie war so kahl, wie wir selbst nach der Flucht uns fühlten. Der

Patriarch beklopfte die Wände und zeigte uns sein triumphierendes

Lachen.


Als in der Decke Risse erschienen, war mir klar, daß nun der Einsturz

erfolgen würde. Ich floh und brachte mich in Sicherheit.


Dann trieb mich aufsteigende Angst zu den Verschütteten zurück. Auf

der Chaussee drängten sich die Menschen wie im Kaufhaus. Zwischen

den Feuerwehrmännern und Eisverkäufern standen die Särge, und auf

dem Feld wuchs unablässig die Zahl der niedrigen schwarzpolierten

Steinkreuze.


Er lag auf der Seite in einer Holzkiste, die schief zwischen den

Trümmern hing und kehrte uns den Rücken mit der rußigen braunen

Samtjacke zu. Er lebte, aber wir mußten ihn in ein Wägelchen setzen und sein Mund war schlaff und weinerlich geworden. So standen wir in der Gewißheit bei ihm, daß nun endgültig keine Hilfe mehr möglich und keine Schuld abzutragen war, als er erklärte, wieder bauen zu wollen.



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Aus weißglühendem Sonnenbrenner spült die lange Himmelsflamme den Morgen. Hellgrün breitet sich aus wie Öl und flimmert in winzigen Wellen, aber die Erde klebt noch am Schuh. Bald werfen die Blüten Duftnetze über unsere Gesichter, bis Atemnot eintritt — schließlich ist Frühling, die Zeit der Selbstmörder ist gekommen.


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Das weiße, krause Gift der Linden ist wie Phosphor aufgegangen. Seine Duftschwaden sinken herab, von der stillen Kerzenflammc des Junimondes gezogen. Eine tropische Nacht hält die Welt im Arm wie ein Kind und läßt unsere Geweide erglühen. Vor mir erscheint das Gesicht des nackten Photomodells, sein feiger, wissender Blick .. .


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Mit dem Abend war ein Gewitter gekommen, so daß die Dunkelheit

viel schneller einbrach als gewöhnlich. Da es warm war und die ersten Tropfen anheimelnd auf meinem Fensterblech zerplatzten, schob ich den Stuhl beiseite, um in den Hof mit den zwei grauen Bäumen zu sehen. Am Geländer zur Kellertreppe standen eine Waschschüssel, eine staubige Topfagave und ein kaputtes Spielzeugauto im Grasflecken. Alles war viel näher, als ich erwartet hatte. Auf den Fassaden mit den stillverschlossenen dunklen Fenstern waren die Putzflächen so zerfressen, daß ihre Rißlinien wie erstarrte Blitze aussahen. Immer kürzer wurden die Pausen zwischen den halblauten Donnerschlägen, doch die fortschreitende Verdüsterung hatte etwas Besänftigendes, und der Regen war nicht stark genug, um das traumhaft gebrochene Gespräch der beiden Hausmeisterkinder zu übertönen.



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Das Spritzen, Rufen, Weinen, Schreien, Pfeifen und Radiospielen in dem völlig überfüllten Freibad verschmilzt zu einem ununterbrochen wabernden, bald heller und schärfer, bald dunkler werdenden Chorgesang. Seine unterschiedliche Intensität mag durch einen langsam gedrehten Reflektor bedingt sein, beispielsweise durch eine Strahlenwand, die an einer Wolke aufgefächert wird. Ich muß ab und zu die Augen öffnen, um mich davon zu vergewissern, daß das Massaker noch nicht begonnen hat.


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Eine dichte Morgenbewölkung war die Folge des Nachtregens, der noch schwer im Gras der Wegränder hing. Dumpf knirschten die grauen, halbgetrockneten Kiesel unter den Sandalen. Der stetige Wind hatte den Geschmack süßer unreifer Weizenkörner, die zwischen den Zähnen zerplatzen. Nach den Albernheiten von gestern, von einer stechenden Sonne ausgebrütet, reizt der Unwille in Deinem Gesicht zu neuem Beginn.


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Untergehen in einer grellbunt gelackten Flut von Produkten, die zu Abfall werden, kaum daß sie gekauft sind; zerbrochen, zerbeult, fettig, verstaubt und bekleckert: die Mode vom Frühjahr, der Schlager von der letzten Woche, das Fußballspiel von gestern, die Zeitung vom Mittag, die Kunst von vorhin. Letztes Raffinement in der Zusammenstellung von Sympathiefarben. In Rosa und Gelb das süße Flair von faulender Haut, zum Zeichen, daß nichts verschenkt wird. Köstlich lackiertes Blech für die blutige Prüfung im Eigenheim, kurzer Blick auf die Ewigkeit vorm Versicherungsprozeß, orthopädische Gerätschaften, aufgefetzte Kleiderpuppen, Schutt wie am letzten Tag und in explodierenden Farben das Bildnis einer Nackten, die uns ihre Haut zeigen muß, ihre Brüste, die auch im Kniesitz nicht ihre Scham verbirgt und uns dennoch ansieht wie Menschen.


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Wenn die Hammerschläge des Auspuffgedröhns und die Stahlrasseln der Gespräche mich in das Schneckenhaus getrieben haben, dann versuche ich, durch weitläufige Räume meine Schlafstelle zu erreichen. Leise und vorsichtig gehe ich über immer dickere Teppiche durch weißgoldene Zimmer und schließe immer schwerere Türen, bis kein Laut mehr von außen hereindringt. Da öffne ich dann die letzte Tür, das juckende Hemd der Nötigungen schon halb vom Leibe gezogen, und sehe in der Hoffnung auf weiches dunkles Vergessen: die Angst hält in ihren Klauen und leckt mit brechsaurer Zunge einen blasig zerfressenden Klumpen - mein Herz.


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Der rostige Bahnhof füllt sich mit Vätern und Söhnen, soll man sagen, mit Männern, da gibts jedenfalls nur Filzhut und Brillantine, überlauten Witz und heimliches Frieren; zwar jedes Gesicht hat einen kleinen Defekt, aber jeder ist auch mal Stadionsprecher, und trotz des Nebels werden die Sperren bedrängt und die Bürgersteige quellen über. Doch da sind nur wenige, die so laut singen und Fahnen schwenken, die meisten haben es zu oft besprochen und würgen schon an dem Schrei, in dem sie es erbrechen wollen, nein, da zeigt sich auch schüchtern Ferienglück und grimmig Vollbesitz von kleiner, aber kieselharter Geisteskraft, und ob in der Schlange zum Pissoir, ob die Treppen hinaufgedrängt oder nach Bier gerufen wird, unablässig zerknallen dieselben Wortkiesel, daß es immer öder wird, denn nie können 30.000 das grausige Betonloch füllen, der Nebel macht ja den Rasen so dunkel, daß es aussieht, als wäre kein Boden drin, aber der muß ja sein und sehr fest, wie sollten denn sonst die paar Buntkostümierten mit ihren Übungen solch brüllenden Kehlkrampf lösen können, ach, daß die defekten Gesichter kein Wahnsinn verklärt, verwehren schon Ehering und Fischgrätenmantel und eine ausschweifende Förmlichkeit, die Vollendung, will sagen, das Ende verrät, und wie beim 1 : 1, wo auch weder Sattheit noch Friede kommt, entflammt beim großen Aufbruch hier und da mit roten Gesichtern und wirren Haaren eine Prügelei.



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Viel zu deutlich ist das Gespräch der Vögel in den unermeßlich gewordenen Hallen des Waldes zu verstehen: „Liebster Gott, wann werd' ich sterben?" Vielleicht ist irgendwo eine halboffene Kapelle zu finden, mit Deckengemälden, noch maßloser vergoldet als diese Baumkronen. Dahin mit leichten Schritten gelangen. Und ferne Glocken wiegen sich: „Komm .. . komm . . . komm . . .”


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Im Park war es mittlerweile so dunkel geworden, daß wir die befestigten Wege nur ahnen konnten. Dichte Baumkronen schirmten die letzte blaugrüne Abendhelligkeit ab. Mit dem Todesschrei böser buckliger Zwerge narrten uns Pfauen, die wie schwarzes Tuch im Geäst hingen. Ich glaubte, den guten Willen in unserer dreiköpfigen Spaziergesellschaft zu spüren und wollte meinen Dank durch Offenheit erweisen. Aber woran ich mein Gespräch auch aufzuhängen suchte - es blieb ohne Widerhall. Zwischen einem kalksteingefaßten Abhang und einer dunklen Wiese ging unser Asphaltweg. Als wir uns umdrehten, stand der prächtige Abendstern über der Baumwand und schimmerte in den Pfützen. Mußte ich über ihn reden? Waren meine Worte nicht wie der Lärm vom nahen Flugplatz? Halbstündlich grollt an der Schmerzgrenze die Dauerexplosion startender Triebwerke herüber - aber kein Blättchen rührt sich im Wald.


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Der schwarzgetaute Park lag diesmal in einer neuen Umgebung. Hinter seinen überwundenen Höhen wußten wir die See. Durch das Baumgitter schimmerte entfernt ein hohes Gebäude, hell wie die Universität. Schon längere Zeit befanden wir uns an diesem Ort, knapp 50 Kommilitonen, gruppiert wie selige Geister, aber ohne Erwartung. Niemanden interessierte es, ob die Flecke am Himmel aus Eiskristallen oder aus weißem Dampf bestanden. Die unbestimmte Weiterlage ließ eins wie das andere gleichermaßen zu. Als ein Außenstehender kam, um eine Erkundigung einzuholen, mußte er um Sitzende und Stehende herum bis in unsere Mitte vordringen, da kaum jemand von ihm Notiz nahm. An unserem Schicksal so wenig beteiligt wie wir an dem seinen, stellte er in höflichem Ton eine Frage.


Ich entsinne mich, daß ich bei der Antwort lediglich versuchte, diesen Ton einzuhalten. Sein Rückweg wurde schwierig. Er mußte sich zwischen uns hindurchdrehen, mußte schieben, wurde geschoben und schließlich gestoßen. Mit unhörbarer Stimme schrie ich, daß er uns nichts getan hätte. Seine beträchtliche Größe hatte schon um die Hälfte abgenommen, aber sein Gesicht verriet noch immer kein Verständnis für unsere Lage. Über zwei Meter hoch war unser ehemaliger Anführer vor ihm erwachsen. Lust- und mutlos, doch böse stieß er auf den Fremden ein.


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Nachtblaue Posaunen schwenken langsam durch die Sternwolken der Galaxis. Ihre fern heulenden Glissandi entziehen uns den Boden unter den Füßen, sie öffnen die Tiefen, wir spüren sie saugend im Unterleib. Voll und hochschwebend hallt Isoldens Stimme durch den weiten Raum her und bewegt wie ein Hauch die Projektion des Spiralnebels auf dem unübersehbar weit gespannten Tuchhimmel. Sie steht mit erhobenen Armen bei minus zweihundertdreiundsiebzig Grad, seitlich von den Achseln bis zur Hüfte entblößt, und leuchtet hell wie ein Planet. So lehrt sie uns, daß, da kein Aufprall zu erwarten ist, der Fall unsere Wollust sei.


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Die späten Herbstabende mit ihrem Krähengeschrei stiegen herauf. Der Himmel war schon nachtklar bis auf einen Zug von Federwölkchen, an denen der letzte Sonnenstrahl verglomm. Der Rasen vom Denkmalsberg sandte ein so intensives Tiefgrün herüber, daß es aussah, als könne Dunkelheit leuchten. Riesige Tannen und Eichenwipfel wurden in der Ferne vom Oktoberwind hin und hergezogen. Hinter den Doppelfenstern war von ihm nichts mehr zu spüren; dafür drang der Lärm der Krähenscharen gedämpft herein. Als dünne Schleier erschienen sie am Horizont und flogen in unübersehbaren Zügen nach Südosten: die höchsten nur als Punkte sichtbar, die niedrigsten mit Krächzen und hartem Flügelschlag über die Baumsilhouetten und die Säule mit dem kaiserlichen Sandsteinadler hinweg. Das Zimmer hinter mir war trotz seiner Größe anheimelnd, dunkel und warm. Meist saß meine Großmutter schon mit ihrer Drahtbrille unter dem grünen Schirm der Stehlampe und kramte in einem Korb voller Strümpfe. Und obwohl der Kaiser schon lange tot war und obwohl auch das vierte Jahr dieses Krieges zu Ende ging, war mir dort auf meinem Fensterbrett, als hätte ich begonnen, das Ende der Ewigkeit aufzuknäulen.



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Es war unsere Villenwohnung, die wir vor der Flucht bewohnt halten, durch eine längere Sonnenfinsternis bereits am Nachmittag verdunkelt. Ich spürte plötzlich, daß ich mich nicht mehr allein in den Räumen befand. Im Herrenzimmer, wo auf dem schwarz polierten Fußboden nur noch ein Stuhl, ein Tisch und ein paar gebeizte Regale standen, saß mein Stiefvater. Von etwas künstlicher Gesichtsfarbe, wie sie im ultravioletten Licht entsteht, aber sehr feierlich gekleidet, zeichnete er versunken und häufig absetzend mit einem Bleistift auf der Tischplatte. ,,Halloo," rief ich, „ist das eine Freude!" Zu plötzlich war er im vorigen Jahr einem Herzschlag erlegen. Ich ging hin und umarmte ihn fast. Dann setzte ich mich zu ihm, während er weiterzeichnete und -probierte. Nur mühsam und halb beim Zuhörer erklärte er mir, worum es ihm ging. Zwei Koffer hatten vor seinem letzten Weg auf dem Schrank gestanden, einer aber war nur mitgenommen worden. Und nun versuchte er sich vergeblich zu erklären, wie man den zweiten erfaßt, vom Schrank gehoben und abtransportiert hatte. Ein leiser Vorwurf war dabei nicht zu überhören.


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Auf dem Podest lag ein Bündel aus kostbarer, taubenblauer Seide. Exotische Männer mit feierlichen und bösen Gesichtern hielten die Totenwache. Schwere Fahnen senkten sich nieder, und aus Fackeln wirbelte schwarzer drohender Rauch. In dem Bündel lag die Leiche von Flores, zerstückelt und infolge der erlittenen Mißhandlungen teilweise geliert. „Zerbrechliche Fracht" hatte ein Witzbold unter das Bild geschrieben. Ich aber erkannte, daß es sich um einen schrecklichen Freibrief für seine Anhänger handelte, und lief, was meine zitternden Knie hergaben.


Der Häscher im Lederzeug hatte Ähnlichkeit mit einem kräftigen, aber sensiblen Schulkameraden. Ich rannte über die breite Stadtstraße und einen Hang aus frisch gebrochenem Granitpflaster hinaus. Ich hatte keine Zeit, mich zu verstecken, denn schon war er da und verwickelte mich in ein wildes Handgemenge. Wir rollten über die Kante, wobei sein Kopf so unglücklich zu liegen kam, daß es mir gelang, ihm die Nasenlöcher und ein Auge aufzureißen. Ich spürte sein Entsetzen, und seine zitternde Hand, die meinen Arm hinabglitt, zeigte mir, daß er nun der Liebe bedurfte. So konnte ich mich für diesen Moment retten, indem ich ihm meine Faust mit seinem schleimigen Blut hart ins Gesicht schlug. Er fiel durch sonnengefleckte Blätterdächer und peitschende Äste hindurch, bis ganz unten Brennesseln über seinem leblosen Körper nickten. Eine horizontnahe aber starke Abendsonne brachte die Nesseln zum Leuchten; sie erstrahlten in einem hellen Grün und feierten unseren Frieden.



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In einer Folge von wild verbauten Hinterhöfen, deren tiefster nicht einmal der letzte war, hing schwarzbraune Finsternis. Kein Licht und kein Lebenszeichen verriet, ob die Bewohner ausgestorben waren, ob sie schliefen oder ob sie alle lauschend hinter den Vorhängen warteten. Nur die winzige Schaubühne, etwa 50 Schritte von meinem Standort entfernt, lag in einem dunkelgelben begrenzten Lichtschein. Dort auf den Brettern, agierte SIE in vollständiger Hingabe ihrer Tränen, ihres Lachens und ihrer Liebe für mich, aber in tiefstem Ernst und absoluter Gleichgültigkeit gegen jeden Lauscher. Obwohl ihr Spiel immer schmerzvoller wurde, fühlte ich mit wachsender Beklemmung, wie ich allmählich von ihm ausgeschlossen wurde.


Je mehr sie sich offenbarte, desto verzweifelter suchte ich einen Zugang zu ihr zu gewinnen. Undeutliche Gestalten versammelten sich zwischen uns. Noch nie hatte ich dringender und zugleich hoffnungsloser das Verlangen gehabt, sie zu sprechen. Mir war nichts anderes eingefallen: ,,Du warst....!" Ja, was? Als mir zu dämmern begann, daß ich zu lange Zuschauer geblieben war, war ich schon inmitten einer Menge hektisch diskutierender Schatten allein gelassen worden.


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Über dem Platz vor der Thomaskirche hat der Stundenschlag plötzlich eine ganz ungewöhnliche, volle und rhythmische, gleichwohl unerbittliche Fortsetzung gefunden. Von den Heerscharen vergangener Reiche, die eben noch in der Mittagsglut heranwimmelten, bleiben nur einige düster-goldene Blitze, weil die Sonne im Begriff ist, sich kupferbraun zu verfärben. Schlage doch bald. Mit blindem Lächeln, den Kopf weit zurückgeworfen, taumelt die selige Stunde als Cellpizzicato durch Zeilen. Im Brand des Höllenfeuers, in den weißen Flammen, die aus dem Ebenholz der Oboen schlagen, vertieft ihre Glut sich.



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Zwischen schwarzen Teichen hindurch und grasgesäumte Villenstraßen entlang schleppte ich meinen Koffer. Noch nie hatte ich mich in der weitläufigen Kleinstadt zurechtgefunden. Ich durchquerte den stillen Ölhafen mit den großen silbernen Behältern und folgte den Gleisen durch einen tiefen Einschnitt. Als die Böschungen zurücktraten, tauchte eine Handvoll dunkler Altstadthäuser auf und dahinter der Bahnhof mit seinem Sandbahnsteig. Da standen Leute, die zum Picknick und zur Arbeit wollten. Sie blickten öfter in die Schlucht mit den blauen Felsen, von wo aus einer Biegung der Triebwagen kommen sollte. Ein Treppchen unter einem schwer geschnitzten Zierfenster führte zum Zimmer des Aufsichtsbeamten. Er öffnete sogar einen Schalter, um mir auf einer Karte die roten Eisenbahnstrecken und Bahnhöfe des Städtchens zu zeigen. Uninteressiert, aber gründlich und überlegen verdeutlichte er mir die Sinnlosigkeit meiner Irrwege.


Da mein Flugzeug nun nicht mehr zu erreichen war, wollte ich ihn bitten, meine Verwandten telefonisch benachrichtigen zu dürfen. Aber seine Ortskenntnis war so groß, daß er mir mit verächtlichem Lächeln und ungebildeten Wiederholungen seiner Karte immer näher vor Augen führte. Es handelte sich um ein Luftbild. Ein leichter goldiger Dunst lag über dem Land und dem offenen Meer. Mein Standort war hoch über den durchsichtigen Zirrusstreifen in der Atmosphäre. Die Farben strahlten satt und tief wie dunkle Gläser im Gegenlicht. Aus dem Hintergrund ihres Portaits klingen seit vier Jahrhunderten diese sanften Akkorde von grün und braun. Es war ja klar, daß sich dort unten im halb aufgelösten sonnendurchfluteten Bodennebel Ahornblätter über die Kieswege wälzten. Die schwarzen Ufer, der Ahorn — wer erwartete mich? — Was wollte ich eben? — Vergeblich suchte ich mich zu erinnern.


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