31 Spots

 

1.       Clay


Sonntag mittag ist sogar der Ku'damm in Halensee ruhig, besonders wenn kein Ausflugsverkehr herrscht. Ich nehme den Neunzehner bis Hagenplatz, gehe die Koenigsallee hinunter und hinter dem Gehege links zum Grunewaldsee. Es sind kaum Spazierganger zu treffen. Nur eine Picknickgesellschaft hat Luftmatratzen aufgeblasen; zwei spielen Federball. Ich klemme die Aktentasche unter den Arm und wende mich rechts in den Grund, um die Badewiese zu vermeiden. Ich bin voller Gram daruber, daß ich, sozusagen sitzengelassen, allein gehen muß. Mein Gesicht kommt mir vor, wie eine blöde und schwere Maske. Plötzlich ist dünnes, dringendes Geschrei in der Luft, zwei große Vögel schwingen sich auf und etwas Rotes fallt herab. Zwischen den Brennesseln ist aber nichts zu finden; nur nasses Papier liegt herum und Insekten fallen mich an. Ich gerate in eine Schonung und nach langerem Anstieg doch plötzlich auf die zum See fallende Badewiese. Ich möchte umkehren, fürchte aber, daß der Ärger über die eigene Ziellosigkeit noch tiefer werden würde. Da die wenigen Leute nicht auf mich achten, entschließe ich mich nach einigem Herumstehen für einen Baumstumpf. Das Wasser muß ziemlich warm sein - es wird gebadet, obwohl der streifige Himmel keinen Sonnenstrahl freigibt. Ein gut entwickeltes braunes Madchen im Badeanzug kämmt sich die langen Haare. Ich müßte sie ansprechen. Als zwei Sportier sich ihrer annehmen, bin ich erleichtert.


Ohne mich viel zu bewegen, verfolge ich einige Flugzeuge über den untätigen Himmel. Auf dem Heimweg werde ich immer böser. Ich lege mir Sätze zurecht, in denen ich die endgültige Trennung ausspreche.


Am Steinplatz gibt es »Charade«. Immer dieselben Gesichter. Im Fernsehen Leichtathletik. Als es zuende ist, lege ich mich in mein Zimmer und warte. Stundenlang höre ich Musik, aber in mir bleibt der Geruch von fauligem Holz und kleinen Wiesen. Undurchdringliches Waldgemisch erscheint, das Bild von Kreidefelsen, ein düsteres Bauernhaus im Herbststurm. Ich merke, daß der Sonntag auch fur meine Eltern der trostloseste Tag ist. Man wundert sich, daß jemand zu Hause ist. Nein, keine Wurststulle, nur was zu trinken.


Sie haben nicht einmal Streit gehabt. Der späte Nachmittag hat sich aufgeklärt. Als ich, auf dem Riicken liegend, den Kopf etwas über die Kante hinausschiebe, sehe ich das hellbeschienene fünfte Stockwerk im makellos erkaltenden Blau leuchten.


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2.       Heimat


In Dresden sind solche weiten Terrassen aus schwarzgewordenem Sandstein, die ein Flüchtling in unauffälliger Gangart überqueren kann. Es fällt nicht weiter auf, wenn er die eine oder andere Stufe leichtfüßig überspringt. Er gelangt in einen seltsamen Vergnügungspark, dessen Kiesboden von hell brennenden Pavillons in roten Streifen erleuchtet wird. Auf den Tanzbrettern liegen noch Papierschlangen und Blumen und Spielautomaten rotieren mit Geflimmer. Junge Männer und Frauen laufen vereinzelt hin und her; allmählich werden es weniger. Glasfenster und -Fassaden hinter gewaltigen Bäumen spiegeln die schönen Flammen.


Der Flüchtling ist im Zweifel darüber, ob die Fortsetzung des Ganges seine Lage verbessert. Das Wrack der Maschine liegt auf einer grünen Anhöhe zwischen Villen und Drahtzäunen. Bevor es abgesperrt war, wanderte er schon über eine breite verkehrsreiche Talstraße stadteinwärts. Nun erschienen ihm die brennenden bunten Häuschen auf dem Kies wirklich sehr festlich, die entfernteren mochten auch einem Bahnhof ähneln. Aber als er wieder an zu laufen fing, türmten sich Hinderungen vor seiner Brust, die ihn atemlos machten. Waren die von allen Seiten erwärmten Plätze inmitten des Parks nicht Seine? Ihm bekannt seit frühesten Zeiten? Konnte er sie überhaupt hinter sich lassen? Er wurde langsamer und hielt schließlich, festgehalten von uralten Erinnerungen.


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3.       Auf Distanz


War ich es selbst, der den Sprung von den dämmernden Felsen der gegenüberliegenden Meeresküste gewagt hatte? Hochauf stieg ein Tropfen in den farblosen Himmel und fiel ewig herab. Obwohl keine Erdkrümmung den Blick in die graublaue Ferne hemmte, verging eine lange Zeit der Ungewißheit, bis das Meer mit feinen Schaumstreifen ein Zeichen von der Ankunft des Schwimmers gab. Der glaubte Entfernungen durchmessen zu haben, die einen Ozeanriesen zur Unsichtbarkeit schrumpfen ließen. Dem Wasser entstiegen, stand er am Fuße einer schwarzen arktischen Steinwüste; ein tagelanger Anstieg brachte ihn in Höhen, die außerhalb der Atmosphäre lagen. Nichtsdestoweniger fand er sich dort als sein eigenes Empfangskomitee wieder.


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4.       Der Lauscher


Schöner denn je vom Leichencoiffeur hergerichtet, liegt Marilyn Monroe mit all den anderen in polierten Schubladen aus Basalt. Auf Abruf werden sie dort aufbewahrt, um zu Feiern und stillem Gedenken den Kreis ihrer Lieben zu vervollständigen. Besucher können nach Entrichtung einer kleinen Gebühr die Kultstatte eingehend besichtigen. Vor einem kolossalen altgriechisch-neuamerikanischen Marmorgruppenbild erläutert ein feierlich besprochenes Tonband die Allegorien und preist das Wunder des Lebens. An massivem Stein für die Wände und die entzückenden Aktbilder, an Schmiedeeisen für Ringe, Tor und Kandelaber wurde nirgends gespart. Weiße Kissen, Spitzen und gefaltetes Leinen, künstliche Ventilation und optimale Temperierung überzeugen uns davon, daß nach der endgültigen Einquartierung für unser Wohlbefinden ehrfurchtsvoll Sorge getragen wird. Mit dieser Gewißheit, wenn auch mit kaum vermindertem Schmerz wird jene alte Dame, die stundenlang im Kerzenschimmer das lebensvolle Antlitz ihres Sohnes betrachtet hat, unsere Anlage verlassen. Wer allerdings in dem wilden Park hinter den Bauten die Nacht abwartet und nun in den dunklen Hallen allein den Ausgang sucht, mag sich dabei ertappen, wie er vergebens auf leise Atemzüge horcht.


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5.       Lara


Ich sehe IHR Haus in Auflösung. Es hat bereits Teile seiner Fassade eingebüßt. Dunkelgelbe Tapeten hängen von den Wänden und schwarzbraune Treppengeländer winden sich aufwärts. Ihre Mutter, zu je einem viertel von gutem Willen, Krebs, Niedertracht und Religion verzehrt, hat eine unwahrscheinliche Metamorphose durchgemacht. Durch zwei Stockwerke des Treppenhauses ragt eine hagere, grausig ausgefressene Figur aus Draht und klumpigem Papiermache empor — glühend in Rot, Violett und Blaugrün Mit bleiernem Gesicht hatte sie mir bei unserem letzten Streit zugerufen: »Das Kind wird immer wieder zur Mutter zurückkehren!«


Jetzt stand ich wartend in dem offenen dunklen Eßzimmer, wo ich den runden Tisch wiederzuerkennen glaubte. In der Ecke stand die schwarze Kommode mit den alten kleinen Bildern darüber. Ein Stuhl war noch da von den sechsen, auf denen die kleinen aber gespannten Abendunterhaltungen stattgefunden hatten. Wenn ihre Mutter mich allzusehr mit Butterbroten traktierte und komplimentierte, lächelte sie oft genug spitzbübisch in sich hinein, ohne mir beizustehen Die fremde junge Frau brachte ein Stuck Papier. Nein, diese undeutliche Fotografie sollte alles sein? Es war IHR Gesicht. Die Augenränder ihrer Mutter. Ja, weitersuchen wäre zwecklos, die Ausräumungsarbeiten schritten voran.


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6.       Thixotropie


An der baumbestandenen Halbinsel war jemand auf die Idee gekommen, zu baden. Alle waren so schnell davongelaufen, daß ich einige Zeit brauchte, um ihre Spur zu finden. Erst nach einem langen Aufstieg hatte ich, zwischen Beat-Schuppen und Badehausern hervortretend, den Dünensaum erreicht und blickte aufs diesige Meer. Etwa 70 m tief fiel die Küste ab und schwang in einen rotgelben Sandstreifen aus. Fünf winzige Oberkörper tummelten sich auf dem Wasser, warfen die Arme empor und schienen zu rufen Der Horizont war nur noch ein olivgrüner Schleier und aus ihm wuchs eine Wolkenstraße, die in einem kohlschwarz dräuenden Kopf über uns endete. Da sie aber reglos verharrte, wie mit gewalligem Pinselschlag ins Bild gesetzt, begann ich mich langsam wieder zu Iösen und wagte den Abstieg.


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7.       Die Beratungsstelle


Mit der Erinnerung an besonnte Mauern und Stadtbahngleise, mit dem versinkenden Bild einer kilometerweit geneigten Moorlandschaft im Auge, schon überblendet vom dunklen Glanz der blauen Stahl- und Glasfassadenteile, mit dem Bewußtsein, 150 Stockwerke mühelos überwunden zu haben, trete ich hinaus auf die einladend möblierte Plattform. Ein weicher gelber Bodenbelag wird von niedrigen Leuchten in unscharf begrenzten Kreisen erhellt. Breite Ledersessel, zwei niedrige schöne Tische und eine Hausbar sind angeordnet, als sollte eine Geselligkeit stattfinden. Zwar ist dies ein Zimmer ohne Wände und Dach, doch treibt ein langsamer Abendwind so dichten Nebel vorbei, daß weder Himmel noch Erde zu sehen sind. Niemand läßt sich blicken, obwohl die Schwaden allmählich dunkelbraun werden. Weniger als je scheinen die Einrichter des seltsamen Zimmers mit Niederschlägen zu rechnen. Als sich nach einigen Stunden oder Wochen immer noch nichts rührt, hätte ich doch gern jemanden gefunden, um aufkommende Fragen zu klären.


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8.       Treue


Mit der Verbissenheit eines tollwütigen Tieres verfolgte sie mich durch die Hügel einer freundlichen warmgetönten Vorstadt Ich lief an alten Bretterzäunen und Hochspannungsmasten entlang, verhielt hinter Backsteinmauern und hastete grasbewachsene Wege hinauf. Mehrmals wäre es ihr um Haaresbreite gelungen, mich mit den Spritzern der trüben Flüssigkeit zu treffen, die aus ihren ewigen Wunden drang. Gelang es ihr, so war es gewiß, daß meine Haut sich mit unheilbaren Wucherungen bedecken würde.


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9.       Peinlicher Verlauf einer Anbahnung


Die große Halbinsel, das Immerwiederland baut hoch ins Meer hinein. Ihre aufgewühlte Oberfläche erinnert an Heideland, auf dem eine neue Stadt entstehen soll. Viele rote Backsteinmauern sind schon errichtet. Ein Auto wankt gerade die Sandstraße herauf, als der Sturm lautlos weißgeschälte Kronenresie von den Stammen bricht. Ich springe unter einen Türstock — atemlos, aber nichts, der Vorfall hat keine Folgen. Alle Leute, die vorbeigehen, scheinen noch etwas zu erwarten. Sie recken die Hälse, als suchten sie das große Schiff auf dem Meer.


Ich setze mich auf eine Treppenstufe, die in der Sonne liegt. Eine reife, aber schlanke braune Frau berührt mich so unverschämt und zärtlich, daß ich ihr in den ersten Stock nachsteige. Die Wohnung ist weitläufig, ohne Zwischenwände und wird gerade ausgeräumt. Doch SIE sitzt schon mit einem anderen an der Bar und sagt mir "Nächstes Mal.«


Der regenfeuchte Weg zur Straßenbahnhaltestelle fuhrt an einem langen Zaun entlang Ein kleines Mädchen blickt mit den anderen Leuten aufmerksam durch die Latten. »Da ...» sagt es »sehen Sie!« Langsam wird in der Ferne an einem Turmdrehkran der Delinquent, der meine Sachen anhat, emporgezogen und dann - zack - schnellen seine Beine empor. Das Mädchen zeigt kein schlechtes Gewissen. Während meiner scherzhaft formulierten, aber doch etwas besorgten Erkundigungen beißt es seinen Kaugummi ab.


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10.     Die Nachbesserung


Ich muß nochrnal auf das alte verwohnte Schloß zurückkommen. Zwar nicht im großen Saal, aber in dem mit viel verschlissenem Tuch und Teppich ausgelegten Zimmer hatten sich die Gäste eingefunden. Verschwommen waren sie auf Kissen gruppiert oder standen still und trüb hinter ihren Verwandten. Das war deswegen so befremdlich, weil sie eben noch in bunten Gruppen den Waldweg vom Spielplatz heraufgekommen waren. Allerdings von dem Spielplatz, an dem schwer und dunkel mein Herz hing, weil ich mit ihr dort gegangen war.


Mit der köstlichen Fischsuppe, die meine Mutter brachte, schien sich alles zu lösen. Doch mußte ich feststellen, daß es sich nur um heißes Wasser handelte. Auch das kalte Wasser, das ich nach einem rettenden Einfalt zur Verdünnung reichen ließ, konnte IHRE Abwesenheit von unserer Verlobungsfeier weder erklären noch beschönigen. Die Gaste sahen still auf ihr Geschirr nieder. Bei abnehmenden Temperaturen begann allmählich der Rauhreif auf den Rändern zu funkeln.


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11.     Exculpiert


Gegen Mitternacht waren die Flure gelb erleuchtet. Später im Morgengrauen ging ich die breiten Rampen zum Dach empor. Bretter lagen umher und der Kalk rieselte auf abgestellte mannshohe Bilder herab - Bautätigkeit und Verfall schienen sich die Waage zu halten.

Auf dem weiten geteerten Dach tauten Schneefetzen. Nach einer Kehre endete die Rampe als hölzerne Schalung im Himmel. An einer Wand im dritten Stockwerk saß er mit einem Jüngeren — zwei schwarzgekleidete Gestalten zwischen Wachen und Schlafen. Ich lehnte mich mit ausgestrecktem Arm an den Mauerrest und begann ihn in Schwingungen zu versetzen. Plötzlich polterte ein metergroßes Stück hinab bis an die Beine des kleineren Mannes. Ich fragte ihn nach einer Verletzung, aber er konnte nichts sagen, so würgte er am unteren Ende des Blockes. Unentschlossen zog ich am Oberen, um den Absturz ins Verkehrsgewühl zu verhindern. In dem Moment, als wir ihn gebannt glaubten, rutschte der Block in einer Schneespur abwärts und wälzte sich in die Tiefe.


Der kleine Mann sah ihm nach. Es dauerte, bis die Lähmung von ihm wich und er endlich mit einem kurzen benommenen Schritt hinterhersprang. Den Zurückgebliebenen sah ich nicht an. Vor keinem Gerichtssaal würde es ihnen gelingen, mir die Schuld aufzubürden, die der andere eben mit sich genommen hatte.


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12.     Epiphanie


Um drei Uhr nachts ereignete sich folgendes: Vor dem sturmgescheckten Grauviolett der Häuserreihen erschien auf einem riesigen lautlosen Motorrad, wie aus der Ferne herangeschossen und fast mein ganzes Blickfeld erfüllend, der Frühling. Gekleidet in mildleuchtendes grün und hellrosa Lederzeug sah er mir ausdrucksarm aber nicht unfreundlich ins Gesicht.


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13.     Soiree


Die verschlungenen Waldpfade bei Yamanaka. Berge von Flitter. Leuchtend bunte Strümpfe in ihren Cellophanverpackungen. Das Glanzpapier knistert im pazifischen Wind. Beschwingte Tempeldächer ragen aus dem Grün. Zwischen den schlanken baumhohen Säulen führte uns Untreue zusammen. Ihre Brust mit der kleinen Warze liegt in meiner Hand. Wir unterhalten uns bruchstückhaft über einige Fälle von hinreißender Kunstausübung. Der Ozean verhält sich ruhig; es scheint, er kann warten...


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14.     Vergessene Schulden


Das Innere der Kirche war weit und hell wie eine Arena. Elliptische Sitzreihen senkten sich allmählich bis zu einem kleinen offenen Rund in der Mitte. 30.000 buntgekleidete Menschen besetzten den hallenden Raum bis auf den letzten Platz. Der Kardinal sprach mit weitausgreifenden aber strengen Gesten über das rechte Gottesleben.


Furcht breitete sich aus. Und da hatten sie auch schon einen entlarvt. Bleich und wehrlos wurde der junge Mensch aus den Reihen geführt. Er brauchte nicht den geringsten Zweifel am Fortgang der Dinge zu haben. Es würde sehr übel werden und ohne heulende Krankenwagen, ohne Bluttransfusionen und ohne Trost zu Ende gehen. Der Kardinal verzog seine Lippen kaum zu einem Lächeln des Stolzes. Nervös drehte ich den weichen bastartigen Lauf meines Gewehrs um die Hand; ich überlegte, ob ich es meinem Nachbarn unterschieben oder einfach stehen lassen sollte. Wenn ich ganz fest daran glaubte und nach vorn blickte, kam vielleicht keiner darauf. Doch dann; dann wurde es Zeit. Die Augen meines Nachbarn hatten sich auf die richtige Entfernung eingestellt, so starr er den Kopf auch hielt. Noch wagte er, selbst von Entsetzen gebannt, seine Blickrichtung nicht zu ändern. Ich erhob mich etwas umständlich, klopfte meine Hose ab und bat mit tonloser Stimme um Durchlaß.


Als ich die flache Treppe hinauf schwebte, spürte ich, wie in meinem Rücken das Getümmel begann. Ich beschleunigte und schoß schließlich am oberen Ausgang hoch über den Küstenhang hinaus. Weich landete ich zwischen den dunklen, geschachtelten Dächern in der Wohngegend meiner Kindheit. Ich sprang wieder auf und parallel zum Strand flog ich 150 m weiter über Telegraphenmasten und locker gestellte Blechschuppen hinweg. Allzu schnell ging es nicht, aber ich hoffte, daß mir niemand den Weg bis zum Ende der Steilküste abschneiden würde. Die Luft wurde immer dichter und ihr Widerstand so groß, daß ich durch die flache Bucht den Wasserweg wählte. Ich tauchte und schwamm über den Gräsern einer Wiese hin, die von den warmen, ziehenden Wellen des Ozeans bewegt wurden. Keine Aufregung. Meine eigenen Bewegungen wurden langsamer, träger. Was war so wichtig? Ich merkte am weichen Grau des Wassers, daß es schon seit langer, langer Zeit Abend war.


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15.     Zeit und Sein


Der Zug jagte durch gewaltige, vollständig lichtlose Waldschluchten. Im düsteren Speisewagen blakten nur zwei Kerzen. Das Abteil war etwa sieben Meter lang, aber durch eine Wand so schmal geschnitten, daß man die Arme nicht ganz ausbreiten konnte. Zwei Gestalten, deren Daseinsform in unregelmäßigen Abständen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wechselte, hingen auf den Sitzbrettern. An den Wänden leuchtete dunkles Rot, wie in einer heruntergekommenen Bar. Nach zehn Minuten hatte ich aussteigen wollen, aber schon die dritte Stunde lang heulten Stahlschwellen unter uns, neigten wir uns in lange saugende Kurven und schössen schleudernd die Geraden zwischen Wänden aus undurchdringlicher Nacht hinab.


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16.     Hinausgekrönt


Einige Gäste hatten sich in dem kleinen dunklen Garten versammelt. Über die Terrassenbrüstung gelehnt, sah ich zu ihnen hinunter. Sie riefen, ich sollte den Tomatensalat immerhin anrichten; nach einer kurzen Besichtigung würden sie kommen. Ein ungewolltes Nachsinnen brachte mich darauf, daß es nichts zu besichtigen gab. So durchschaute ich ihre Herablassung, was mich aufmerksam und kalt machte. Mir wurde bewußt, daß ich nicht mehr die kleine Fassade unseres Ostberliner Villenhauses im Rücken hatte. Sondern es erhob sich hinter mir, einen gewaltigen Mondschatten werfend, der dunkelbraune Riesenbau des YMCA-Buildmgs aus der 34. Straße.


Trotzdem rief ich den Leuten ein Witzwort zurück und ging in die Wohnung. Gegen Ende des Festes war die Hauptbeleuchtung abgeschaltet worden. Überall hatte man Matratzen und Schlafsäcke ausgebreitet. Einige von den Gästen kamen mir bekannt vor; mich schienen sie alle zu kennen, wie ich aus ihrem sicheren und klugen Verhalten schloß. Es waren junge Leute in grauen Hosen und alten Jacken, von denen wenige noch lasen oder sich unterhielten. Die Mehrheit lag still oder schlief.

Nur das Bad war hell erleuchtet. Dort herrschte viel Betrieb und die Tür durfte nicht verschlossen werden. Ich wollte meine Notdurft nicht unter so öffentlichen Umständen verrichten. Man fand sich aber lediglich dazu bereit, ein Verbotsschild für mich zu malen und es vor der offenen Tür aufzustellen.


Klein und gebeugt wie der alte Fritz kam ich wieder heraus. Hart stieß ich den Stock auf die Erde und ließ mein böse flammendes Auge umherschweifen. Eine Freundin, die mich gut kannte, riet mir dazu, die Hand mit dem Stock zittern zu lassen. So schritt ich zwischen den Liegenden hindurch.


Ich hatte einen jungen, ehrfürchtigen Begleiter. Dem trat ich nun schon zum dritten Mal die Beine weg. Wieder schlug er mit dem Hinterkopf auf den Flur und drehte verzweifelt den Kopf hin und her. Vor lauter Betroffenheit hatte ich meine normale Größe. Selbst verzweifelt, suchte ich nach Trostworten und beschwichtigte ihn, so gut es ging. Dann versuchte ich wieder zu gehen, wie der alte Fritz. Doch verzerrte sich mein Mund und das Auge blickte jämmerlich. Ich ließ es sein. Irgendwie - zunächst sehr verlegen - lernte ich lachen.


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17.     Lust, widerstrebend


Ich hatte die Gestalt von Oma Duck angenommen. Der Nachthimmel war schwarze gestirnlose Seide und doch leuchteten sanft meine Felder. Eine Landstraße wand sich weit in die Ebene. In 20 Kilometer Entfernung, wo sie sich am Horizont verlor, waren einige Bäume zu sehen. Gleich dahinter erhob sich der lange dunkelbraune Block des gewaltigen Schlosses. Lautlos schwang ich mich in die Luft.


Das Schloßdach war eine verwinkelte Konstruktion aus rostigen Profileisen. Es hatte Aufbauten aus Zinkblech und Drahtglas. Hier führten einzelne Aufgänge aus dicken Steintreppen herauf, die die endlosen, dunklen und blinden Fensterreihen der Fassaden unterbrachen. Wo der feuchte Putz bröckelte, hatte sich Moos angesiedelt. Als ich den Dachfirst überflog, bemerkte ich das kleine Gefolge. Es bestand nur aus vier Leuten, die vornehm und zurückhaltend gekleidet waren. Die leichte Angst des Fliegens gab mir wieder ein fürchterliches Aussehen. Sie ließ mich so wild und zottig aufschwellen, daß die vier Menschen erbleichten. Ich spürte sofort ihre Sorge um die sensible Prinzessin, die sich weiter hinten allein auf dem gefährlichen Weg zu ihrem Geliebten befand.


Da sah ich, daß schwach und riesengroß der Mond aufgegangen war. Er erschien wie ein rundes Blatt Ölpapier auf schwarzem Grund. Feine Striche zeichneten sich ab und begannen, auf ihm ein orthogonales durchbrochenes Netz zu bilden. Sie vermehrten sich, als würde jemand nacheinander buntlackierte Stäbchen auslegen. Ich verhielt in der weichen Nachtluft und verlor mich in Betrachtung. Doch keiner soll glauben, daß ich diesem verderblichen Einfluß erlegen wäre. Im Innersten wußte ich genau, daß ich mich davon losreißen, wieder aufwärtssteuern und mit tellergroßen feurigen Augen meiner Pflicht nachkommen würde.


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18.     Späte Anerkennung


In dem weiten Nebelmeer nahm etwas Gestalt an. Das konnte ein grauer feuchter Sandstrand sein oder ein leeres Flußbett. Ich mußte einige kräftige Pfähle übersehen haben, denn da war auch eine Bewegung oben am Rande meines Gesichtsfeldes. Ganz leicht schwangen ein Paar schwere Stiefel in Augenhohe hin und her, halb verborgen unter dem dicken Filz eines Uniformmantels. Still und unzugänglich hingen mehrere Schatten in der Luft. Ihre Reglosigkeit wurde um so bedrohlicher, je mehr ihre lebendigen Gefährten sich unserem Standort näherten. Sie tauchten plötzlich irgendwo auf und wurden für Augenblicke wieder unsichtbar. Vereinzelt fielen Schusse.


Der Rotarmist nahm seine Maschinenpistole etwas zur Seite, um mich durchzulassen »Danke« murmelte ich und merkte sofort, daß dies nicht ausreichte, meine Ergebenheit zu verdeutlichen. »Dankeschön« setzte ich deswegen halblaut hinzu. »Aha« schrie er mir nach in gebrochenem Deutsch »Danke, dankeschön! - werden die Kapitalisten höflich?!« Noch nie war mein gutgeschnittener dunkelblauer Mantel mir so peinlich gewesen, »Angst macht Schöngeist aus Mörder, wie!« schrie er noch böser. Aus Furcht, ihn zu reizen, wagte ich keine schnelle Bewegung. Trotzdem spürte ich schon etwas Widerwärtiges zwischen den Schulterblättern. Die Bretterwände waren jetzt teilweise eingefallen und quergestellt; ich kam nicht voran. Er aber entsicherte seine Waffe.


Aus weiter Ferne zurückgekehrt, betrat ich wieder das kleine hohe dunkle Zimmer inmitten der flammenden Höhen von Bayreuth oder Bautzen. Mehr noch als die braunsamtenen Tapeten schwächten gewaltige Blätterkronen vor den Fenstern das Abendlicht. Große alte Möbel standen an den Wänden und ein Weihnachtsbaum brannte schwach auf dem Vertiko. Im Sofa saßen fünf junge Frauen aus der Nachbarschaft. Lächelnd und doch etwas verlegen sprach ich sie der Reihe nach an. Dabei hatte ich aber nur die jüngste mit den freien Schultern im Auge. Doch schien gerade sie von meinem Gespräch das Geringste zu erwarten. Als ich mich endlich ihr zuwandte, sah sie mich einen Augenblick lang mit aufleuchtenden Augen an und riß sich dann unbändig lachend eine Perücke vom Kopf.


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19.     Permanente Abreise         


Man muß sich ein sehr großes aber nicht ungemütliches Zimmer vorstellen, das vielleicht im 15. Stockwerk liegt. Es wird jedoch von den anderen Fassaden so weit überragt, daß man in seiner Dunkelheit nur ahnen kann, welche Triumphe das Abendlicht oben nach schwerer Bewölkung feiert. An der Längswand steht schräg abgerückt eine Doppelcouch, auf der sich jene Dame ausstreckt, die als unglückliche gequollene Maske das Gesicht meiner Mutter trägt. Ein hoffnungsloses falsches Lächeln ist um den Mund und das dicke zitternde Kinn gefroren, als sie sagt; "Meinetwegen brauchst Du doch nicht hierzubleiben.« Sie zieht eine von den herumgeworfenen alten Wolldecken über sich und setzt hinzu: »Ich bin so glücklich, daß es jetzt dunkel wird.« Erwidern konnte ich nichts. Eine Weile lang stand ich mitten im Raum und starrte mit heißer Kehle auf den Teppich. Dann ging ich hinaus.


Ein unheimlicher Baukomplex erhob sich, aus riesigen Hallenwänden und turmartigen Aufbauten gechachtelt mehrere hundert Meter hoch in das Nachtblau. Auf unseren erhöhten Sitz hatte ich ein Holzröhrchen mitgebracht, das von zwei blanken Linsen abgeschlossen war »Guck mal durch«, sagte ich und gab es ihm, »aber vorsichtig — nicht kaputtmachen,« An der Spitze des Komplexes waren einige schwache Lichter aufgeblinkt, Da schössen plötzlich drei Qualmbäume heraus und wuchsen und ballten sich zu einem finsteren Rauchgebirge. »Komm — zeig mir nochmal.« Ich sah durch das Röhrchen die Stahlkamine und darauf die dicken geraden Qualmstrahlen. Aber zwischen ihnen und in den Löchern der schwarzen Wolken funkelten die Sterne. Später stiegen wir die Eisensprossen zur Plattform hinab und öffneten die hölzerne Waggontür. Der alte Dreiachser stand auf einem verrotteten Stumpfgleis, von dem aus sich schon Schlingpflanzen seiner Stangen und Haltegriffe bemächtigten. Trotzdem ließen wir uns in aufsteigender Hoffnung auf einem der Sitze nieder und ich zog die Tür hinter uns zu. In dem schwachen, warmen Morgenlicht schienen die freundlichen Gesichter der Mitreisenden auf.


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20.     Einige Clips vom 20.7.69


Ein kleiner leerer Platz hatte sich geöffnet. Vor dem Theater war eine Absperrung errichtet worden. Möglicherweise stand sie dort wegen Einsturzgefahr, denn vor ihr hatten sich ein Dutzend Leute von sehr unterschiedlichem und teils abenteuerlichem Äußeren versammelt. Die meisten standen nur herum, einige schlichen wie Panther an der Absperrung entlang, wandten sich plötzlich sprungartig dem Haus zu und brüllten eine Verwünschung. Von Zeit zu Zeit krachten Steine an die Fassade.


Der flimmernde Schirm zeigt jetzt Reflexe, die noch härter aufleuchten, als das Weiß des Hintergrundes. Das Dunkle, das plötzlich die ganze Fläche einnimmt und sie dann, kleiner werdend, wieder freigibt, erweist sich als ein plumper Körper, der die soeben noch verdeckte Öffnung passiert hat.

    

Ein herrliches und beängstigendes Stück sollte gegeben werden. Zwischen Scheinwerfern, Stangen und Kabeln würden unbändige junge Menschen unter Blitzlichtgewittern zu ohrenbetäubender Musik tanzen; halbbekleidet und ungekämmt sagten sie sich von Vater und Mutter los.


Eine maschinenhafte Gestalt stapfte in dem weißen Staub herum. Mitternacht ist vorüber und noch immer brennt uns der Fernseher in der finsteren kleinen Eisbar sein flimmerndes Bild in die Augen. Die Gestalt macht seltsam verzögerte Sprünge vor der scharfen Horizontlinie, dann geht sie aus dem Bild und laßt uns viertelstundenlang die gleißende Ebene mit den Fußabdrücken anstarren. Ich stemme die Beine unter den Tisch und lehne meinen Kopf weit zurück an die hölzerne Wand.

Das größte aber war ihre Einsamkeit. Auf dem ungeheuren leeren Bühnenboden hatten sie eine graue Plane auseinandergezogen, die sie durch Luftzufuhr von unten in ein unablässiges Wallen und Wühlen versetzten. Und da, wo eben noch unter tausendfach verstärkten, peitschenden Saitenrissen und bis in die Bauchhöhle dröhnenden Bässen eine ausufernde Tanzorgie stattgefunden hatte, da stand nun allein und lang und linkisch ein junger Mensch auf seinem haltlos treibenden Wolkenberg, der mit spröder Stimme sang: »Wo komm ich her, wo geh ich hin?«


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21.     Hazard


Es war Nacht geworden, als ich den Burghof hinausging. Gelb und nah stand der Mond über mir. Ich umfaßte einen der Pfeiler, der sich infolge des Verfalls von der Mauer gelöst hatte und kletterte leicht an ihm hinauf. Da die Steine nur noch lose aufeinanderlagen, geriet er in langsame Schwankungen. Ich kletterte weiter und sah die besorgten Gesichter der Männer, die in fragilen alten Raumgefährten durch das Nichts geschleudert wurden.


Die Verführung war so groß, daß ich mich mit einem Freund auf die Reise machte. Mit wachsender Geschwindigkeit erhoben wir uns tausende von Kilometern hoch über die fleckig erleuchteten Schindeldächer. In langgestrecktem Bogen näherten wir uns der Mondkugel. Von den weißen Bahnhöfen her wurde uns Ermutigung zugesprochen. Als wir in den Bannkreis des Gestirns gerieten, krümmte sich unsere Flugbahn, die Geschwindigkeit nahm wiederum zu und wir wurden davor gewarnt, uns in die bodenlosen Tiefen des Raumes schleudern zu lassen. Schon leuchtete uns die Rückseite des Mondes. Sein Durchmesser schrumpfte, wie der jenes Stadtteils, den wir tief unter uns sahen: die Dächer waren kaum noch zu unterscheiden. Da überwältigte mich der Wunsch, den Weg fortzusetzen. Ich öffnete alle Ventile und hoffte, auf einer verhältnismäßig stabilen Bahn Saturn zu erreichen, den geheimnisvollen, der still und eisig strahlte.


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22.     Ein vorläufiges Leben

 

Wieder hatte ich mich stundenlang vergeblich an dem Flughafen aufgehalten, der in der Steppe lag. Wie schwere Geschosse stiegen die Maschinen auf und verschwanden übers Meer. Eine nach der anderen. Auf dem Rückweg hatte ich Dutzende von großen und kleinen Treppen zu steigen. Widerstrebend entließen mich staubige Drahtgitter, Geländer und Sperren auf die Straße. Ich ging zur Altstadt hinab, wo wir ein kahles Zimmer hatten.


»Hast Du die Ausreise?« fragte sie. Ich nahm einen Emailbecher mit kaltem Kaffee vom Wandbrett und rührte den Inhalt auf. »Nein«. Ich mußte sogar noch Geld für das Busticket auftreiben, um wieder hinzukommen. Ich wusch meine Näpfe aus und sortierte sie in die Regale. Die lange Wand war mit gelbgrüner Ölfarbe gestrichen, die freundlich im fremden Taglicht geleuchtet hatte. Als ich die Glühbirnen einschaltete, nahm sie den altgewohnten Farbton an.


Meist verbrachte ich die Zeit außerhalb der Wohnung. Der unabsehbare Strand war dunkel sandbraun gefärbt, der reglose Ozean kaum zu spüren. Ich saß an einem Tisch aus roh zusammengenagelten Brettern. Erst einige hundert Meter weiter entfernt war ein ähnliches Möbel in den Sand gestellt worden. Mit schweren Stiefeln kam ein großer einheimischer Fischer heran. Er stellte zwei Becher auf und füllte sie aus dem Weinkrug.


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23.     Der letzte Hafen


Wir hatten den Musikdampfer über Steintreppen erreicht, die im grenznahen Gebiet eine der abgelegensten Hafenmauern durchschnitten. In dem schmalen Inneren saß man auf Bänken an stählernen Wänden, wie in einem Warteraum. Es gab nirgends eine Stelle, wohin man sich zurückziehen konnte - dafür war der Schein der wenigen Glühbirnen schwach und trübe. Was mich zuerst mißtrauisch machte, war die Tatsache, daß gar keine Tanzfläche existierte. Leise sprach ich darüber mit meinem Begleiter.

      

Wir fuhren durch ein weites, leeres Becken. Träge liefen die Wellen hinter uns auseinander. Das Wasser war kalt und schwer wie Metall. Die Mitglieder der Kapelle hatten sich, in Uniformen vermummt, auf den Boden niedergelassen und achteten darauf, daß kein Passagier ins Freie gelangte. So schläfrig sie auch aussahen - jedesmal, wenn sich von innen jemand der Tür näherte, hob einer von ihnen langsam das Gewehr.


Als es uns trotzdem gelang, schien niemand unsere Flucht bemerken zu wollen. Unter einer finsteren großen Brücke zogen wir vorsichtig das Fenster herab, knieten uns in die Öffnung und schnellten hinaus. Wir stolperten die Steinplatte hinauf und rannten an teilnahmslosen Wachen vorbei. In einer hohen Wand fanden wir eine Stahltür. Innen hatte die Halle einen Latexboden und war von kaltem Licht erfüllt. Wir beobachteten, wie da Häftlinge im Gänsemarsch vorbeizogen. Obwohl uns niemand beachtete, hatte ich das Gefühl, registriert worden zu sein. Kein Wort war zu hören. Auch Karatajew, den ich an seinem runden Kopf erkannte, blickte kalt und stumpf vor sich nieder. Sprache hatten hier nur die Anfänger.


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24.     Vom Erhabenen


Damals wohnten wir in einer Neubausiedlung mit halbfertigen hellen Hochhäusern. Der Seewind wehte züngelnde Schleier von Dünensand über die Straße. In einer Ecke machte ich das Fahrrad fertig. Die Sonne schien blendend herab, die Kinder lärmten und die Erwachsenen waren in großer Eile. Die Zeit lief zugleich vor und zurück. Da wurde mir eine Erscheinung zuteil, die auch von der Boulevardpresse ausführlich kommentiert wurde: das Gesicht unseres Strandpolizisten blickte unheimlich zum Totenkopf verformt aus den Resten einer Supernova hervor.


Mit dem Rad stimmte etwas nicht. Es fuhr sehr schnell und kurvte eigene Wege und mir war, als zöge ich unter Mißachtung der Verkehrsregeln ein flaches Wägelchen mit einem Insassen hinter mir her. Die lange baumlose Asphaltstraße zum Strand legte ich schnell zurück. Das Wasser hatte Sandhügel hinterlassen, in denen ich schließlich stecken blieb und absteigen mußte. Mich umgab plötzlich eine Schar halbnackter Leute. Sie wollten sehen, wie ich mit dem Polizisten fertig werden würde, der plötzlich da war. Statt seiner verschwand die Sonne vom Himmel, nur das diffuse Tageslicht strömte noch aus dem Blau herab. Ohne daß mir ein Wort zu meiner Rechtfertigung einfiel, lächelte ich den Polizisten an. Statt eines verkehrsgefährdenden Anhängers mit Passagier hatte ich nach der Wandlung einen Zug aus bunten fußgroßen Pappwägelchen hinter mir hergezogen. Dazu konnte jede Stellungnahme von mir eine Verhöhnung sein. Andererseits durfte ich auch nicht zu zerknirscht dreinblicken, weil dann die Umstehenden möglicherweise laut an zu lachen fingen. Indem ich mich sehr behutsam bewegte, gelang es mir, die Spannung abzubauen. Bald konnten wir wieder davon ausgehen, daß der Polizist im Blau verschwinden und fern fern von dem Ort wo ich steckengeblieben war, irgendwo in der Galaxis oder in einem Kugelsternhaufen eine neue unbegreifliche Existenz annehmen würde.


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25.     Verdorben


Als ein leichter Nachtwind aufkam, öffnete sich gegenüber eine Haustür. Sie ging sehr langsam auf und war wegen ihres großen Alters unheimlich anzusehen. Heraus trat, nein, tastete sich der uralte Ilgner, in schlotterndes Schwarz gekleidet. Mit waberndem Stockarm schob er über die Straße. Ich hätte geschworen, daß er schon seit fünfundzwanzig Jahren unter der Erde lag, aber ich verließ meinen Standort auf der Treppe und ging ihm anstandshalber entgegen.


Angefangen hatte es, als er - noch während meiner Schulzeit - pensioniert wurde. Er war immer etwas abwesend erschienen und dann sehr unglücklich geworden. Das machte ihn zwangsläufig zum Opfer unserer sozialen Aktivitäten. Durch einige Ausbrüche seinerseits, die wir aus der Distanz über uns ergehen ließen, wurden wir in der Annahme bestärkt, daß er einen starken Haß gegen uns fühlte. Bald wurde er krank und konnte sich nicht mehr allein versorgen. Da wollte es der Zufall oder eine geheime Regie meiner Mutter, daß ich zu Ihm ging und an seiner Wohnungstür klingelte. Die Sache war unangenehm, aber bei aller Angst hatte ich mich mit Widerspruch und Frechheit gewappnet. Ich hatte jede Antwort durchdacht, ich hatte Tätlichkeiten im Geiste geübt und Fluchtwege eingeplant. Aber was geschah? Der alte Ilgner öffnete; er schien meine mühsame Einleitung gar nicht zu hören und sagte mit hastiger, beinahe schüchterner Höflichkeit: »Ach, das ist sehr freundlich, bitte, kommen Sie doch herein.« Er sagte »Sie« und bat mich in das gute Zimmer. Kaum hatte ich den Verdacht überwunden, daß er mir eine Falle stellen wollte, war mir die Schwäche seiner Position klar geworden. Meine Angst wurde von einer außerordentlichen Verlegenheit abgelöst. Ich saß steif auf dem Polsterstuhl und er sprach mit Zurückhaltung, aber ohne zu stocken, über dies und jenes, wie um mein Interesse zu erkunden. Allmählich faßte ich mich soweit, daß ich ausführlicher erwiderte, worüber er seine Freude nicht verbergen konnte.


Als wir uns voneinander verabschiedeten, befand ich mich in einem Wirbel von erleichterten und glücklichen Gedanken, mit dem festen Vorsatz darin, den alten Herrn wieder zu besuchen. Aber der Vorsatz wurde nie ausgeführt, weil ich weder eine Gelegenheit noch einen Anlaß dazu fand.


Fast genau auf der Straßenmitte sprach ich ihn an. Er sah mir nicht ins Gesicht, sondern blickte mit zitterndem Kopf bald die leere dunkle Straße hinab, bald in die haushohen Lindenkronen über uns. Mümmelnd beklagte er sich über Machenschaften an Zaun und Garten, die ihm längst nicht mehr gehörten. "Das lange Liegen," sagte er, "fünfundzwanzig Jahre...; da hat man keine Kontrolle mehr. Alles verkommt."


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26.     Nähe


Sie erinnerte mich daran, daß noch eine unangenehme Sache zu erledigen war. »Ach, laß doch erst mal.« sagte ich. »Meinetwegen«, sagte sie »aber Du mußt ihn so oder so kupieren - je eher Du es tust, desto leichter ist es.« Das war nicht zu widerlegen. »Warte, ich mach es gleich,« sagte ich »dann hab ich es hinter mir.«

 

Ich packte das Tier fester, um mit der anderen Hand nach meinem Taschenmesser zu suchen. Es begann sich aber zu winden, es wehrte sich und versuchte, mich zu beißen. Ich krümmte meine Finger in sein weiches, warmes Fell. Jeder Muskel war darunter zu spüren. Das Tier war kleiner und schlanker geworden; mit dem Unterarm klemmte ich es an meinem Brustkorb fest, während ich mit der Hand seinen Rachen sperren mußte. Der Kampf brachte uns einander nahe. Da ich seine Lebendigkeit so sehr in der Hand hatte, spürte ich nicht nur jede Bewegung, sondern bald jede seiner Absichten und sein ganzes Wollen, als wäre es ein Teil von mir.


Das Tier wurde immer störrischer. Ob ich meinen Griff löste oder verkrampfte, ob ich seine Bewegungsfreiheit gänzlich abdrückte oder ob ich es mit der anderen Hand beruhigend zu streicheln versuchte - seine Aggressivität wuchs und wurde immer bösartiger. Ich mußte einsehen, daß es unrettbar verdorben war und daß wir im Guten nicht mehr auseinanderkommen würden.


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27.     Die Vermittlung

 

Wir begegneten uns auf dem Parkett von Wandelgängen, die sich um einen großen Saal herumzogen. Doch bekam ich sie nie ganz zu Gesicht. Durch andere Besucher, durch Brüstungen oder Säulen war sie ständig wenigstens zur Hälfte verdeckt. Auch von ihren strahlenden Augen sah ich immer nur eins. »Er kann ohne dich nicht leben,« sagte ich ihr zum Schluß, »aber ich kann es.«


Ich ließ den Wagen in der neuerbauten aber unaufgeräumten Garage stehen. Es war das herrliche Modell mit der gedrungenen Pfeilform. Mein Bruder fragte mich, ob auch alles in Ordnung sei. Ich erwiderte, die Maschine ließe sich ausgezeichnet handhaben, nur hätte mir der Händler vorn statt der Reifen zwei Zaunlatten um die Felgen gebrochen und mit Koppeldraht befestigt.


Aus dem Fenster des Dachzimmers blickte ich in die pechschwarze Nacht. Da erschien draußen, von ihrer Hand gewechselt, eine Folge von Glasmalereien, die das bewegte Leben des Automobilhändlers darstellten. Ich sah ihn zwischen sturmgebeugten Baumstämmen wandern und sah sein Gesicht groß und angstvoll dem Tod ins Auge blicken. Auch auf den weiteren Bildern erlebte ich ihn als einen getriebenen Helden, dem sie in weitem Abstand durch Ossians Gras, durch Büsche und Moore folgte, unbeirrbar. 


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28.     Auf treibender Scholle 


Im Büroraum saß ich einigen Herren der Sicherheitsbehörde gegenüber. Ich gewann von ihnen den Eindruck der Intelligenz und Prinzipienfestigkeit, obwohl wir keineswegs über Glaubensfragen, sondern nur über alltägliche Vorfälle sprachen.


Während einer längeren Pause stand ich mit der jungen Frau, die dem Verhör beigewohnt hatte, auf dem Vorplatz. Rock und Bluse deuteten die Uniform an, ihr Benehmen war ausgesprochen sicher und zielbewußt, wenn auch nicht unfreundlich. Ja, als sie meinte, daß mir der Schulaufsatz, den ich vor 25 Jahren geschrieben hatte und der bei den Akten lag, nicht allzusehr geschadet hätte, entstand so etwas wie eine persönliche Beziehung. Die Beziehung war jedoch einseitig, wie ich feststellen mußte, denn die Frau wußte sehr wohl die menschlichen Belange vom Wesentlichen zu trennen.


Auch als ich lächelnd eine Bemerkung machte, die meine Sympathie für die Klarheit ihrer Prinzipien zum Ausdruck bringen sollte, meinte sie nur, daß ja noch alles offen sei. Ich kämpfte aber weiter um jedes Wort und jede Regung, denn hinter dem Zaun sah ich die Hochhäuser jenes Stadtteils, der unerreichbar zu werden drohte.


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29.     Bauwut


Die Sonne wirkte etwas künstlich, als ein gläserner Tag uns weckte. Unser Bett stand dicht an einer sehr breiten Schnellstraße, die sich zwischen Neubauten und aufgewühlter schwarzer Erde in eine Tunnelöffnung senkte. Auf der linken Seite zog sich eine halbfertige Ladenzeile hin, rechts, wo wir lagen, war nur Bauland.


Sie lag mit dem Kopf nach Süden, zum Tunnel hin, ich nach Norden. Wir hatten die Beine ineinander verschränkt und steichelten uns schwach mit den Zehen. Da wir nichts anhatten, zog ich öfter an dem zerwühlten Leinen, um uns etwas zu bedecken.


Inzwischen wuchsen natürlich die Häuser um ein Weniges und das Hellgrau ihrer Fassaden erhielt nach und nach einen leicht gelblichen Ton. Auch die Fertigstellung der Gehwege machte Fortschritte, trotzdem: die ungewöhnliche Tageszeit dauerte an. Der Strom der Fahrzeuge wurde dichter, die Zahl der wenigen sichtbaren Passanten nahm eher ab. Nur einer, etwas korpulent aber beweglich, in hellem Anzug und karierter Weste, kam auf uns zu. Er sprach sehr unfreundlich und gab sich als Jurist zu erkennen. »Ich habe Zeugen.« sagte er »ich habe genug Zeugen«. Mit einem Fußtritt stieß ich ihn um. Er rappelte sich wieder auf und lief davon - einem Radfahrer entgegen, den er anhielt.

Mißtrauisch blickte ich ihm nach.


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30.     Sog


Schon bei dem ersten Blick, der mich streifte, merkte ich, daß hier Vorsicht geboten war. Der Mann hatte es drauf. Die helle, fast durchsichtige Iris hatte nur einen feinen schwarzen Rand. Trotzdem sahen die Augen mit größter Festigkeit aus dem schmalen Gesicht. Der Sitzplatz, den er gewählt hatte, verriet sein Geschick im Umgang mit den Massen. Kam man von außen, so schien er nicht besonders erhöht, doch hatte er jeden Zuhörer unter Kontrolle, soweit seine ruhige klare Stimme reichte.


Auch ich hatte meinen Platz mit Bedacht gewählt. Wie auf dem Markt achtete ich darauf, einerseits jedes Wort zu verstehen, andererseits aber sofort aus dem Bannkreis verschwinden zu können, wenn die Preise genannt wurden. Bei seiner Sensibilität war größtes Geschick erforderlich, um zwischen Vereinnahmung und Verdammnis hindurchzulavieren. Zwar war der Gedanke verführerisch, ihm bedingungslos zu folgen - ich kannte den Rausch, der sich einstellte beim Brückenabbrechen - doch wollte ich erst mal sehen, wie es sich auf eigenen Beinen ging. Ohne aufzufallen allerdings, denn ich wollte nicht heruntergeputzt werden, wie der Reiche vorhin, oder ihm auf den Leim gehen wie Ischariot.


Ich lächelte ihm, der dort unter dem flimmernden Blätterdach saß, freundlich-blöde zu und nickte heftig an den falschen Stellen. So konnte ich mir seine allumfassende Liebe erhalten, ohne sein Interesse geweckt zu haben.


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31.     Abkehr von der Politik


Vielleicht hatte ich zu laut über meine kleinen Ersparnisse, deren Sicherung mir tatsächlich einige Sorgen bereitete, nachgedacht. Eine beunruhigende Warnung ging mir zu. In meiner Wohnung in bester Lage - vierter Stock Altbau an einer Fußgängerzone mit historischen Fassaden - tigerte ich schon einige Zeit auf dem lautlosen beigefarbenen Teppichboden hin und her, als vor meinem Fenster dicke Rauchwolken aufquollen.


Ich kam der Ursache schnell auf die Spur. Unten lief eine große junge Frau in weißem Handwerkerdress schimpfend um eine Gruppe unschlüssiger Leute herum. Sie hatte an einem Gasbehältnis gewerkelt, von dem die Leute sie abzubringen versuchten. Gelegentlich folgte ihr jemand einige Schritte oder hielt sie fest, aber sie wehrte sich so agil, entschieden und lautstark, daß keiner die Rolle des Gendarmen durchzuhalten wagte. Sie war längst entkommen, als die anderen immer noch ratlos das Gerät umstanden, das sie auf dem Pflaster zurückgelassen hatte. Schwächer werdende Rauchwolken stiegen daraus auf.


Erst am dunkelsten Ende des langen, eng gewordenen U-Bahnsteiges spürte ich sie wieder auf. Sie, die eben noch mit kaum sichtbaren, aber gleich gekleideten jungen Männern gesprochen hatte, schien zu fühlen, daß ich sie suchte. Sie löste sich von ihnen und kam mir, langsamer werdend, einige Schritte entgegen. Wir standen dicht voreinander und ich spürte deutlich eine gewisse Anziehungkraft, die von ihr ausging. Ich warf ihr ein Seil über und zog sie an den beiden Enden langsam zu mir heran. Da aber waren die anderen Vier plötzlich auch im Lichtkreis und hatten sie mit wenigen schnellen Handgriffen wieder befreit. Obwohl sie die Frau sofort abschirmten, wich ich nicht zurück. In der augenblicklichen Erkenntnis, daß unsere Begegnung keinerlei politisches Ansehen gewinnen durfte, sagte ich halblaut aber wahrheitsgemäß: »Möchte Dich sprechen.«


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