(12) vom 6.2.70 und 21.3.89

 

Zuletzt hatten wir ihn vorgestern gegen 15.00 Uhr auf den Armen gehalten. Nun lag eine dicke nasse Schneedecke auf dem Gelände der Laubenkolonie und gab der Nacht einen bläulichen Schimmer. Der Anstieg ist spürbar und ziemlich lang und wird durch eine Mannigfaltigkeit von Zäunen geknickt. Lauben und Bäume stehen in regloser Schwärze. Die Bahnhofslampen unter uns vergilben langsam beim Aufstieg.

 

Der Hergang war folgender: zunächst hatten wir unmäßig lange im Zug gesessen. Ich hatte nicht geglaubt, daß derart alte Personenwagen noch auf so langen Strecken eingesetzt wurden. Ich fuhr mit meinem Bruder; wir sprachen wenig aber ohne Zwang. An das bräunlich beleuchtete Abteil hatten wir uns gewöhnt wie an ein Hotelzimmer. Für Stunden bestand die Welt nur aus einem räudigen Samtpolster mit etwas dunkler Verkleidung und undeutlich zitternden Reflexen auf nachtschwarzem Glas. Ein Geruch von Asche und Eisen war mit der Zeit auf uns übergegangen.

 

Zur Erläuterung sollte ich vielleicht nachtragen, daß die beiden einzigen Reisenden, die wir auf dem Bahnsteig getroffen hatten, im Laufe der Nacht erdgrau geworden waren. Da sie nicht ansprechbar waren, gingen wir auf mühsame Suche. Der Aufsichtsbeamte und sein Kollege vom Wagendienst blieben ernst aber freundlich, als wir ihnen die Sachlage erklärt hatten. Ersterer führte einige Telefongespräche, während wir mit dem Zweiten weitere Möglichkeiten erwogen. Dann saßen wir lange auf den Wandbänken im Dienstraum.

 

 

 

Da die Zuständigkeiten im Laufe der Nacht nicht mehr geklärt werden konnten, gab man uns den Rat, auf die Rückkehr des zuvor von uns benutzte Zuges zu warten. Mir waren die Hände so weiß geworden, als hätte ich Salzwasser in den Adern gehabt.

 

Trotzdem erhoben wir uns, verließen das schützende Wartehäuschen und begannen hinter den Sperren den Aufstieg. Das Laubengelände schien vollkommen verlassen und in der Höhe ging ein mächtiger Wind. Da schloß vor uns ein Damm, nur ahnbar dort, wo das Nachtgewölk ein paar eisige Sterne freigab, das Land nach oben ab. Hätte in dem röhrenförmigen Gang nicht eine verlorene Neonleuchte gebrannt, so wären wir nicht weitergekommen. In langem, engen, feuchtem Beton unterquerten wir mit knirschenden Schritten den Damm. "Im Ernst, ist das...?" fragte mein Bruder dumpf. "Warts ab," sagte ich halblaut. Mit leichtem Nachhall wanderten wir lange aufwärts bis zu der Stelle, wo einmal das Hochwasser abgeleitet werden sollte.

 

Das Licht lag weit hinter uns, als das Klingen von Tautropfen und ein brausender Wind uns den Ausgang ankündigten. Vor uns stieg leicht die weite kahlgepflügte Senke an, deren Ränder Finsternis und Hochwald bildeten. Nah und brillant szintillierten die Sterne. Aber noch geheimnisvoller stand in seinem eigenen Schein ein einziges neugrau-graues Mietshaus in der Erde. Alle Zins- und Rechenkunst des Neozäns hatten Ausdruck in der Kahlheit seiner Fassade gefunden. Der schwere nasse Baugrund war mit Schutt durchmischt. Der Frühlingswind durchströmte uns wie eine immaterielle Flüssigkeit.

 

"Hinter der Wohnungstür," hub ich an, "das kann ich Dir versprechen, liegt auf dem Bauch seit achtzehnuhrfünf der Kleine. Und wenn wir eintreten, flattert er mit den Armen wie ein Vogel. Er weiß, daß nun auf dem Teppich, den die helle Abendsonne oder wenigstens die Erinnerung an sie gewärmt hat und dessen schöne braun und gelbe Wüstenfarben davon leuchten, das Wälz- und Tobespiel beginnt." Dies behauptete ich, als wären die Jahrzehnte, die seitdem vergingen, nur wenige Stunden gewesen. "Und wie meinst Du," fragte er, nachdem wir uns, einen Weg suchend, dem Haus allmählich genähert hatten, "soll das alles mit den feuchten Gestirnen da oben zusammenhängen?" "Durch die Evolution." erwiderte ich.

 

Da hörte ich seinen Schrei.

 

 

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(13)

vom 23.2.71 und 25.3.89

 

An einem nachtdunklen Winterabend waren nicht nur der Asphalt, sondern auch die Matschreste und Schneehügel von Eiskrusten überzogen. Über dem Schwimmbecken von Pasing lagen Berge von Dampf, die langsam durch die Lichtkegel der Laternen zogen. Beim Schwimmen in dem auf über dreißig Grad erwärmten Wasser betrug die Sichtweite weniger als drei Meter, so daß ich mir zunächst ziemlich einsam vorkam. Doch dann tauchten ständig neue Köpfe aus dem Nebel auf und die gerade gesehenen - ich will nicht sagen: die Bekannten - verschwanden. Niemals sah ich jemanden wieder und wenn es mir doch so vorkam, war es derart flüchtig, daß mir in einem Anflug von Panik die Beckenwände ins Grenzenlose rückten. Gemessen an dem Stimmengewirr, das ich vernahm, war zudem die Anzahl der Begegnungen von geisterhafter Seltenheit. Dies wiederum erklärte ich mir mit meiner Fähigkeit, die elektrischen Wellen hören zu können, mit denen die Sendeanstalten ihre Programme verbreiteten. Nun ja, oder war es der Nebel, der sich unter Rufen und Schreien mit sich selbst unterhielt?

 

So ging es über Jahre hin, bis ich doch einmal das Mädchen wiederentdeckte, das ich bei der ersten Begegnung, wie immer, nicht anzusprechen gewagt hatte. Im Badeanzug lehnte sie an einem der Laternenpfähle, scheinbar ohne den Frost in den nackten Schultern zu spüren. Ich glaube, ich habe sie mit selbsmörderischem Mut gefragt, ob sie sich erkälten wolle und dann mit versagender Stimme, ob ich sie nach Hause bringen dürfe. Davor war ich allerdings mehrmals im Dampf verschwunden und zurückgekehrt, ohne daß sie sich von der Stelle gerührt hätte. Mein Vorschlag wurde mit überraschender Selbstverständlichkeit akzeptiert, was aber, und das mußte ich lernen, noch lange keine Liebe bedeutete. Ich brachte sie durch immer stillere Straßen in eine sauber asphaltierte Sackgasse zwischen große, aber hinter vielem Grün verborgene Villenhäuser. Aber dann? "Im alten Park...", hatte sie noch gesagt.

 

Als ich mich mit langsamen, elastischen Sprüngen in die Luft erhob, hatten beide Vergangenheiten, die Erlebte und die Wirkliche, diesen Moment zur Gegenwart erhalten. Ich kam auf die breiten dunklen Wege, auf denen bereits mein nie gesehener Großvater ging, wenn er die Vogelstimmen deutete. Ja, unter dem Efeu glänzte manchmal düster-golden das Messing seines verlorenen kaiserlichen Schreibzeugs. Ich schwebte zwischen den Baumkronen auf und nieder und hatte dabei den Eindruck, daß unten Passanten oder Verfolger sich sammelten. Der kleine kiesbestreute Platz, der Treffpunkt, war von gewaltigen schmiedeeisernen Gittern umgeben; einer der fünf Meter hohen Torflügel war halb geöffnet. In Höhe der Lanzenspitzen, die fast von den Schlingpflanzen erreicht wurden, verhielt ich. Mit einer gewissen Abneigung konstatierte ich, daß die Passanten begonnen hatten, das Gitter zu ersteigen. Obwohl die Situation von hier übersichtlicher war als im Bad, war sie doch nicht vorhersehbarer geworden, zumal meine Fähigkeiten jetzt auf einen langsamen Sinkflug reduziert waren.

 


 

(14)

vom 4.4.71 und 26.3.89

Der gekachelte Raum lag unter der Erde und enthielt nur eine Badewanne. In den Gängen und Nebenräumen kannte ich jede Ecke aus der Zeit meiner Kindheit. Aber das einstmals warme und edle Holz war schwarz geworden und faulig - man konnte es fast auswringen - und aus den Wänden drang die Feuchtigkeit. Die Anlagen im Bad funktionierten jedoch. Das Wasser floß trotz seiner vollkommenen Schwärze reichlich und angenehm temperiert.

 

Wohlig streckte ich mich in der Wanne aus. Die beiden Frauen machten Handreichungen. Weder die Ama noch meine Mutter konnte ich in ihnen wiedererkennen, aber der Geruch ihrer Hände kam mir bekannt vor. Ihre halblaut gemurmelten Worte beschwerten und lösten mir die Glieder. Mit geschlossenen Augen ließ ich mich treiben. War es eine Anstrengung, sie zu öffnen oder war die Dunkelheit nicht zu durchdringen? Laß es. Laß alles los.

 

Mir war, als säße ich mit meiner Mutter an den großen Fenstern des Besuchsraumes vom Oskar-Helene-Heim. Draußen zog starker Wind die schweren grünen Baumkronen hin und her - so wie langsame Wellen die Pflanzen in einem Aquarium wiegen. Sie sah lange und ruhig und schweigend hinaus. Dann sprach sie mit mir. Ohne Haß und ohne Liebe sprach sie von meinem Vater; zum erstenmal erzählte sie, wie es war, nicht wie es sein sollte. Sie legte eine Last ab. Bitterkeit war ihr nicht anzumerken, obwohl sie, wie aus ihren Worten zu entnehmen war, Grund zu solcher gehabt hätte. Dann fragte sie mit einer gewissen Schüchternheit, die mich hätte warnen sollen, wie ich mir eigentlich den Übergang vom Leben zum Tod vorstellte. Und was mit der Seele.... was den Sterbenden erwartete... und was danach wäre.

 

 

 

 

Wenn wir schwiegen, sahen wir das Brausen vor den Fenstern, hörten es aber nicht. Nach und nach hatten alle Besucher den großen dämmernden Raum verlassen.

 

Von einer Strömung, die mir recht war, wurde ich langsam im Kreise gedreht. Gemächlich und ahnungslos ließ ich mich treiben, wobei ich allmählich in die Senkrechte geriet. Dann verursachte mir meine vertikale Lage allerdings steigende Verwunderung, ja Angst. Sie kulminierte in einem Schrecken, als ich merkte, daß der Wannenboden verschwunden war. Wo war ich? Warum konnte ich nicht erwachen?

 

Also war das Gespräch Wirklichkeit und das Bad geträumt? Dann aber hatten wir über IHREN Tod geredet. Ihre furchtbare Magerkeit sprach dafür. Die schwindende Hoffnung hinterließ so etwas wie Blutleere. Ich hatte wenig Tröstliches zu sagen gewußt, stellte mir vor, das ICH löste sich ab von der Materie wie eine Sendung von der Antenne. Dann würde es, sich ausdehnend in den unendlichen Raum wieder eins werden mit dem All. Aber was ist das, wenn man an die Lieben, die Bleibenden denkt?

 

Irgendwann mischte dämmriges Grau sich in die Finsternis. Ein kühler Luftzug kündigte den erwachenden Tag an.

 

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(15)

 

vom 14.4.71 und 5.4.89

 

Das Gras zwischen den Büschen und Bäumen war durch die Hitze getrocket aber noch grün. Wir zogen hinaus in bunter, aufgelöster Schar. Dabei nahm ich immer wieder Anlauf, um mich in die Luft zu erheben. Mit ausgebreiteten Armen hielt ich ein breites Drahtgebilde auf den Schultern, das mit schwarzer Kunststoffolie flügelartig bespannt war. Es funktionierte auch insoweit, daß ich sekundenlang auf hohen Ästen, Telegrafenmasten und Mauervorsprüngen balancierte. Aber ganz zufrieden war ich nicht - es fehlte immer der letzte Schwung, um mich halten zu können.

 

Darum rannte ich auf den langen wackligen Brettersteg hinaus, als wir den Kanal erreichten. Aber auch hier mußte ich mich immer an jemandem vorbeidrängen, so daß ich bald gezwungen war, meinen Weg in normaler Gangart fortzusetzen.

 

Auf dem Steg kniete ein Mädchen in Nietenhose und offener Bluse. Als ich mich über sie beugte, wandte sie ihr bronzenes angstvolles Gesicht aufwärts und sah mich an mit ihren sehr großen, sehr tiefen Augen. Ich schmeckte das Salz ihrer weichen vollen Lippen. Um es ihr vorzuführen, erklomm ich die Feuerleiter. Ich mühte mich sehr um den Aufstieg, denn er wurde auch von anderen versucht. Wie die Trauben hingen die Menschen an der Leiter, wobei die eine Hälfte aufwärts und die andere Hälfte abwärts klettern wollte. Am meisten störte mich dabei ein Mann, der eine schwarze Ziege auf den Schultern trug; zeitweise war mein Gesicht gänzlich in ihr Fell gepreßt.

 

 

 

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(16)

 

In Wirklichkeit war alles ganz anders. Zwar dachte ich ständig an das Mädchen, aber ich hatte sie nie geküßt. Es war ein heller, kalter Herbst- oder Frühlingstag mit einzelnen treibenden Wolkenschiffen. Ich überquerte die Bahnanlagen auf der windigen Blockdammbrücke und ging dann mindestens einen Kilometer an dem ziemlich verlassenen Industriegelände entlang. Roter Staub züngelte um meine Füße. Wenn die Straßenbahn nicht kam, dauerte es fünfzig Minuten - ein normaler Fußweg. Ich wollte sowieso das Geld sparen und ging weiter. Die Badehose hatte ich in ein Handtuch eingewickelt.

 

Es gab auch einige märchenhaft verkommene und verrußte Wohnstraßen hinter dem Kraftwerkskomplex, aber am eindrucksvollsten waren dort, wo auf halbem Wege der Knick nach Ostkreuz und Rummelsburg kam, die ungeheuren Hallenwände, die nächtliche Schatten warfen.

 

Das verbotene Schwimmbad erreichte man durch niedergetretene und zerrissene Maschendrahtzäune, durch Büsche und Unkraut, an eingestürzten Hallendächern und am tief eingespundeten und schnell fließenden Warmwasserkanal entlang. An seinem Kopfende hatte das halbzerstörte Becken einen gefährlich hohen, aus einstmals weißgestrichenen Balken errichteten Sprungturm. Hinten sollten Stahlteile in dem schwarzen ruhigen Wasser liegen; allerdings wuchs auch versöhnliches Schilf dort. Hier rauhte der Wind die Oberfläche.

 

So wie ich gelernt hatte, vom Einmeterbrett zu springen, nämlich ganz allmählich von Absatz zu Absatz die Sprunghöhe steigernd, hatte ich mir vorgenommen, heute als einziger Badegast endlich über die Dreimetermarke hinauszukommen. Vorher schwamm ich in dem kalten Wasser einige Züge hin und her. Aber als ich nun das Balkengerüst hinaufkletterte, brachte der Wind allein mich schon zum Zittern. Er trieb die Tropfen über meine Gänsehaut. Jetzt in der langsamen warmen Straßenbahn hinter den sonnendurchfluteten Scheiben sitzen! Oben neigte der unabsehbare Turm sich in die phosphoreszierenden Nachtwolken, unten flirrte das Schwarz. Wie tief mochte es sein? Ein Grauen, da hineinzuspringen. Nichts war zu erkennen. Andererseits, wann kam ich wieder allein her? Wann gab es eine zweite Gelegenheit?

 

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(17)

 

am 1.4.71 und 1.4.89

 

  Laut aber friedvoll brummte der Motor meines alten Wagens. Mit einer Geschwindigkeit, die zwischen hundert und hundertzwanzig Stundenkilometern lag, rollte ich über die schöngeschwungenen Landstraßen um Salzgitter oder Salzderhelden herum. Es war die Gegend, wo sich damals seltsame und furchtbare Luftschauspiele zugetragen hatten. Nachdem die Welle der Kriegsflugzeuge mit ihren Feuerstrahlen über den nächtlichen Straßenzügen verebbt war - man spürte, wie sie einen suchten - starteten riesige schwere Passagierflugzeuge, um den Flughafen zu verlassen. Eines sank tiefer und tiefer zwischen die Dächer und wurde dabei immer langsamer. Als es fast stille zu stehen schien, richtete es sich mit aufbrüllenden Motoren senkrecht in die Höhe und verdunkelte den Himmel. Langgezogene Flammenwirbel quollen ihm aus den Seiten. Es kam aus dem Gleichgewicht. Aber seine Bewegung wurde langsamer. Als sie kurz vorm Erwachen zum Stillstand gekommen war, stand eine Feuerlilie im Nachtschwarz des kleinen Fensters.

 

Das Hauptstück zu diesem prächtigen Vorspiel aber gab die weiche würgende Nacht. In der Umgebung, wo alles entweder asphaltiert oder eingezäunt war, hatten wir Quartier gefunden. Nervös von der heißen Fahrt und voller Angst vor einer weiteren schlaflosen Nacht trug ich die Koffer in das braun und einfach möblierte Zimmer hinauf. "Bleib bei uns," hatte der Kleine gesagt, "...Abend werden."

 

Nach dem Essen gingen wir ratlos zwischen den dunklen Reihen der Ein- und Zweifamilienhäuser spazieren. Während der Kleine hier- und dahin lief und durch die Gartentore spähte, kamen wir an den neonstrahlenden aber längst geschlossenen und gestillten Supermarkt. Quer dahinter lief lang, sehr gerade und steil die Hauptstraße in den Ort hinab. Wir sahen links hinauf, wo sie im Dunkel und rechts hinab, wo sie im Schein von Laternen verschwand. "Sie fahren zu schnell," meinte ich von den einzelnen Autos, die noch verkehrten und nahm den Kleinen hoch. "Laß uns schlafen gehen," sagte sie.

 

Wir hatten vielleicht sechzig Schritte auf dem Rückweg getan, als wir den heftigen gedämpften Schlag auf Blech hörten. Zu sehen war nichts mehr, da wir in eine Seitenstraße gebogen waren. Die beiden achteten nicht darauf und ich sagte kein Wort. Ich hatte sowohl den Jungen bemerkt, der uns auf dem Fahrrad entgegenfuhr, als auch genau das schwache Rauschen gehört, das die Wagen verursachten, die mit abgestelltem Motor aus dem Wald herabkamen.

 

Erst als wir die Haustür aufschlossen, hörte wir weit hinter uns das Martinshorn. Der Kleine fragte, wo es hinwollte und ich sagte, vielleicht brennt irgendwo ein Mülleimer. Die Wirtin kam uns bleich und wortlos entgegen und der Mann stand, schwere Trostworte sprechend am Telefon.

 

Wie immer zu Urlaubsbeginn lag ich wach im fremden Bett, während Ängste ihr Messer in meinem Herzen drehten. Ich meine, es sei zwei Uhr gewesen, als ich aus der Ferne den fürchterlichen Frauenschrei hörte. Dann war wieder Stille. Gewißheit.

 

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(18)

 

vom 29.4.71 und 13.4.89

 

Am Ende der Welt hinter Buschwerk und Sümpfen war die Erde schwarz und aufgeweicht. Zwischen den verfallenden Hütten herrschte die Milde eines finsteren Sommers. Da bei unserer Ankunft nirgends ein Licht brannte, glaubten wir, die Nacht wäre eingefallen.

Das Gebäude, das Haus, nein der Verschlag war zu einem Feldweg hin offen, der hier die Hauptstraße darstellte. Er bestand aus schwarzborkigen, arm- und beindicken Stämmen, die windschief zusammengestellt waren. Beiderseits des Weges waren noch vier, fünf ähnliche Verschläge erkennbar, die jedoch keine Öffnungen zur Außenwelt aufwiesen. Tastend hatten wir an einem dünnbeinigen Blechtischchen Platz genommen. Das Dunkel mochte so etwas wie einen Restaurationsbetrieb verbergen. Wir befanden uns im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens von W, einem Vorort von Bleckede. Ein Mensch in einem hellen Anzug hatte eben noch mit einem krummen Schatten geflüstert. Jetzt saß er in unserer Nähe und wir erfuhren, daß er der Einzige weit und breit war, der sich mit einem Fremden unterhalten konnte. Es hieß aber auch, daß er durch falsche Angaben über sein Alter zehn Jahre zu früh seine Rente bezog.

 

Die Beerdigung war für den nächsten Tag angesetzt. Wir trafen uns vor dem Land-Pflegeheim, dort wo die Elbuferstraße sich gabelt. Der verlassene Asphalt lag im feuchten überhitzten Mittagslicht. Meine Familie war in Schwarz gekommen; die anderen hatten sich verabredet, auf diese Förmlichkeit zu verzichten.

 

 

 

Die drei Wagen standen in jeweils zehn Metern Entfernung voneinander, zwei davon mit geöffnetem Kofferraum zur Mitte gewandt. "Da," sagte Uwe und führte mich an seinen Wagen, "in der Truhe haben wir sie gebracht." Nur unsere knirschenden Schritte waren zu hören. Die anderen standen mehr oder weniger im Kreis bei ihren Autos. Wie ein Scheinwerfer stach die Sonne unseren Asphalt-Morgen heraus. Von ringsumher hatten schwere Wolken eine durchscheinende braune Finsternis herangeschoben.

 

Uwe hob einen mit Kunstleder bespannten Deckel. Ich sah zwischen Wolldecken die blau-metallisch schimmernde Urne und das bemalte Schmuckkästchen. Mein Anzug war bereits durchgeschwitzt, als ich es unter dem Sonnenfokus hinübertrug. Nichts als meine eigenen Schritte waren zu hören. Unter dem Schweigen der anderen drängte die Schwärze nahe heran.

 

 

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(19)

 

vom 29.08.71 und 15.04.89

 

Was uns in der Nacht am Mauersee widerfuhr, war schon auf der Hinreise zu ahnen. Da stand ich an der Küste Samlands, wo damals die Sonne nicht mehr hinreichte in dem grauen ruhigen Nachmittagssternlicht und erwartete den Zug. Zwischen den Dünen sah man ihn kommen mit seiner eleganten überschweren Lok. Er fuhr die Strände entlang, mal hoch über dem Meer, mal mitten durch die Schaumkronen. Als er auftauchte, schien sein Bild eine Weile stillzustehen - dann war es vorbei. "Schrei der Möve" war sein Name.

 

Es dauerte nicht lange und sie wurde eines Nachts von einem leisen Anruf geweckt. Es trieb sie hinaus, wobei sie mich langsam und mechanisch mit sich zog. Der See war fast schwarz dadurch, daß dichter Nadelwald um seine schilfigen Ufer stand. Da das umgebende Land einen eher weitläufigen und herben Charakter hatte, war dieser Ort von jeher nicht geheuer und wurde gemieden. Und nun hatte sich das Wasser in der Mitte bewegt und mit dem Oberkörper tauchte dort die Mutter auf, bleich und glasig wie ein Molch. Mit langsamen, suchenden, umgreifenden Bewegungen kamen ihre Arme über den See. Nur ob sie uns ansah, war nicht zu erkennen. Ihre Augenhöhlen schienen leer zu sein.

 

Viel später versuchte ich ihr bei Gelegenheit nahezubringen, daß eigentlich kein Grund zur Besorgnis bestand. Denn lange bevor wir uns kennenlernten, noch im Krieg, als wir - meine Mutter und wir drei Brüder - in den Kreis Groß-Rambin evakuiert worden waren, machte sie mit uns Ausflüge in die Wälder. Und die waren nicht schwarz, sondern licht und hoch. Sie trug den Jüngsten, während wir zwei anderen vor- und zurückliefen, uns hinter Findlingen versteckten und uns auf die Moospolster warfen. Da lagen wir auf dem Rücken und hörten die Stille.

 

Mit leisem Knarren zogen die ungeheuren roten Fichtenstämme ihre Kronen durch das grundlose Luftmeer. Noch geheimnisvoller war das Rauschen und Zischen der Nadeln, das durch irgendwelche verborgenen Resonanzkörper eine imaginäre Fülle bekam, die an das Singen ferner Chöre erinnerte.

 

Wo das Grün dichter wurde, gluckste ein eisklarer Bach, an dessen Grund die Kiesel schwankten und pulsierten. Erst bettelten wir ums Baden, waren aber schnell wieder heraus, als wir die schneidende Kälte an den Waden spürten. Kurz hinter dem Wasser liefen und stapften wir jubelnd den Sandberg hinauf, der das Ziel unserer Wanderung war. Wir rollten und rutschten und wühlten in der weißen Pracht, wir zogen uns gänzlich aus, gruben Höhlen, wo es feuchter wurde und sprangen in die Bauten, wenn sie fertig waren. Zwischendurch gab es von dem mitgebrachten Kartoffelsalat, wir pellten hartgekochte Eier und schnitten Äpfel aus. Das Spiel der Ahornblätte ließ die Sonnentaler auf unserer Haut durcheinanderlaufen. Die Front war weit, fast unhörbar und es gab noch keine Anzeichen für eine Veränderung.

 

Der einzige vage Hinweis bestand in einer gewissen Abwesenheit ihrerseits. Einigemal fragte sie nach Worten, die wir gerade gesagt hatten.

 

 

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(20)

 

vom 19.10.71 und 20.04.89

  

  Unser Treffen fand in einem hohen Saal statt, der mit schwarzen Hölzern und braunen Ledertapeten ausgekleidet war. Brüchiger und halbverblichener Golddruck darauf erinnerte an einstige Pracht. Zu sechst oder siebt nahmen wir Platz an einem Tisch nahe der großen Flügeltür. Unsere innere Spannung verriet sich durch starke Motorik. Wir rückten die schweren Polsterstühle, lachten über vergangene Ängste und riefen mit Unverschämtheiten nach der Bedienung.

 

Ich hatte ihr zuvor lediglich einmal in der Bahn gegenübersgesessen. Sie war gänzlich abgeschminkt und einfach gekleidet, schlank aber prall von Lebensfülle. Ihre Anmut, ihre Freundlichkeit und Zurückhaltung wurden von animalischer Kraft getragen. Als sie kam, wurden laut die Bestellungen diskutiert, aufgegeben und widerrufen.

 

"Bekomme ich einen Augenblick Gehör?" fragte sie und lächelte dem größten Schreier zu. "Ich möchte Ihnen mitteilen, daß alles, was Sie hier sagen, eines Tages vollständig vergessen und dahin sein wird." Sie wartete, bis der Erschrockene sein Besteck aufgehoben hatte. "Nicht nur weil es unwesentlich ist, sondern weil jeder von Ihnen genauso vergeht. Nun sind Sie zwar zusammengekommen, um sich gegenseitig Ihrer Unvergeßlichkeit zu vergewissern, doch wissen Sie selbst am besten, daß auch die dahin sein werden, die das Gedächtnis behalten sollen. Immerhin könnten Sie sich damit trösten, daß Sie als unverzichtbares Bindeglied in der Generationenfolge oder als Organisator oder Produzent einen Beitrag zum Erhalt des Geschlechtes geleistet haben, der, wie es heißt, in Äonen nicht untergehen kann. Aber auch in diesem Falle ist Ihnen bekannt, daß die astronomischen und atomaren Gegebenheiten keine Dauer zulassen, die nur entfernt etwas mit Ewigkeit, einer ganz anderen, weder denk- noch erfahrbaren Qualität, zu tun hätte. Wenn Sie nun die Frage stellen, was für einen Sinn das hat, was ohne Spur vergeht, so sollten Sie lieber fragen, was Sie zu dieser Frage berechtigt. Es ist offenbar nur Ihre Inkonsequenz. Wie Ihr Anblick mir verrät, erlaubt Ihr Maß Ihnen kein ästhetisches Vergnügen an der Erhabenheit dieser Vorstellung - allenfalls etwas Angst. Wissen Sie jetzt, was Sie bestellen wollten?"

 

Nach dem Essen erhoben wir uns zur Besichtigung der Greuel. Da das Interesse geteilt war, gingen wir bald ziemlich vereinzelt in die Dunkelheit hinauf. Der Weg am Felsen war durch ein Eisengitter gesichert; es fühlte sich rostig aber fest an. In der hellgekleideten Frau, die in einiger Entfernung vor mir herging, erkannte ich SIE.

 

Mehrmals, jedesmal lauter und verzweifelter, rief sie einen Namen. Als sie einen Augenblick schwieg, hörte ich eine Stimme, die alles hinter sich hatte. Ruhig und fragend klang es: "Ja?". Da rief sie "Ich habe dir das angetan, war ich es?". In dem Schweigen drehte der Wind ein paar trockene Blätter um.

 

"Ja, wieso?" sagte die Stimme ruhig.

 

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