(21)

 

die dritten acht

vom 3.10.71 und 22.4.89 (bis?)

 

Ein Eismeer erstreckte sich von der Lüneburger Heide bis zur Mongolei. Im knie- bis brusttiefen Wasser trieben die brüchigen Schollen und lange nasse Sandbänke erinnerten an die einstigen Wüsten. Im Laufe unserer wochenlangen Wanderung kam der eisengraue Mond uns näher. Zehntausend Kilometer sind eine kosmische Haaresbreite aber sie liegen über der Nichtigkeitsgrenze. In der ewigen Dämmerung wateten wir manchmal durch knietiefen Eisbrei, meist aber über saugenden Sand. Hinter uns füllten sich unsere Spuren mit Meerwasser. "Sind wir noch auf der Erde?" fragte einer.

 

Es sah nicht so aus. Narbige, erstarrte, düstere Planetoiden schwebten im bräunlichen und grundlosen Firmament.

 

Angekommen in Ulan Bator oder Peking fanden wir uns auf einer langen abschüssigen Straße, die städtische Parks und Industrieanlagen voneinander trennte. Obwohl der Bahnhof erst wenige Minuten hinter uns lag, hatte man uns in einem Lastwagenanhänger hier stehen lassen. Eigentlich hatten wir ein Übermaß an Kontrolle und Organisation erwartet, aber die Aktionen, die uns trafen, waren spontan, aggressiv und, was uns am meisten überraschte, offenbar schlecht vorbereitet und von geringer Wirksamkeit. So begannen plötzlich die unheimlichen Mitfahrer zu räubern und zu schreien, aber wir vertrieben sie mit Knüppeln.

 

Danach hörte ich nur noch meine eigenen Schritte, die mich langsam an der Längsseite des Wagens auf und abführten. Mir war klar, daß wir gerade so viel Bewegungsfreiheit hatten, wie die Fliege in einer Faust. Der Holzlagerplatz aufunserer Straßenseite war vollkommen still, der Park gegenüber von undurchdringlicher Dunkelheit.

 

Um so erschrockener war ich, als innerhalb der Planken oben ein erneutes Getümmel begann. Ich schwang mich über die Reifen auf die Plattform und mußte mit ansehen, wie zwei unserer Leute im Kampf aufeinanderlagen. Es waren Frinan und Truncan. Frinan hieß kraft seiner leiblichen Äußerungen nur 'das Urviech', waltete aber sonst mit Fleiß und Unbestechlichkeit seines Amtes im Staatsdienst. Truncan, von doppelter Masse, oft sehr laut aber empfindlich, wälzte sich mit ihm zwischen den Borden. Ich zischte sie an: "Was soll das!?" Benommen richteten sie sich auf und Frinan sagte weinerlich: "Er hat wieder von meiner Frau angefangen." “Kein Wort davon,” sagte Ritter Truncan. “Hör doch auf!”. Fürchterlich. "Ich gehe zum Bahnhof." sagte ich.

 

Abseits der Hallen gab es hohe Räume und diese hatten wieder Seitenräume mit Tischen und Stühlen und bunten Bleiglasfenstern - als hätte man versucht, ein Kirchenschiff in Separees zu teilen. In Tür- und Fensternähe, wo ab und zu Uniformierte vorbeigingen, setzte ich mich langsam nieder. Vier weitere Tische wurden zwischen den zusammenrückenden Wänden ins Dunkel gedrückt. Nach langer Zeit kamen die beiden Ritter dazu. Durch die Tür war inzwischen sandiges Wasser hereingeströmt und näßte allmählich den gesamten Fußboden.

 

Ich fing erst vom Wetter an und dann von der Architektur des Bahnhofsgebäudes aber beide verhielten sich schon bei diesem Thema so vorsichtig, daß ich sie schließlich geradewegs fragte: "Wie kommen wir hier wieder raus?" Eisbrocken trieben um unsere Füße. Beide schienen zwar nicht erschrocken, vermieden es aber, mich anzusehen. "Ich habe hier mein Auskommen," sagte Frinan früh gealtert. "Und ich habe mich eingelebt," setzte Truncan hinzu. "...was soll ich zu Hause?"

 

 

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(22)

 

vom 29.12.71 und 29.04.89

 

Ich wollte einmal seinen Klang hören. Weil, ich kam geradewegs aus dem grünleuchtenden Meer über den Strand, der bis in die Fußböden hineinreichte und in die Verkaufsräume mit den Elfenbeinwänden. Die langen aber hellen Gänge führten alle in dem Raum zusammen, wo die Vorführung stattfinden sollte. Auch hier leckten weiße Sandzungen den Boden. Schöne unnahbare Mädchen liefen hin und her. Sie steckten in so engen Kitteln, daß ihre Nacktheit überall durchsah.

 

Eine brachte das Gerät und stellte es vor mich hin auf die Theke. Sie begann daran zu hantieren, schraubte an Rädchen und steckte Drähte, aber dann sagte sie: "Einen Moment bitte." Sie trug es auf einen anderen Tisch, wo sie sich weiter damit beschäftigte.

 

Es dauerte nicht lange und es zerfiel ihr unter den Händen in tausend Teile, die noch von aufschnellenden Federn auseinandergetrieben und über den ganzen Tisch verteilt wurden. Statt zu erschrecken zog sie die Augenbrauen in humoristischer Verzweiflung empor. Sie sah mich einen Augenblick forschend an, schob dann alles zusammen, kam um den Tisch herum und stopfte es mir in die Tasche. "Ich helfe Ihnen, es zu verkaufen - ich weiß, wo es Geld dafür gibt." Bis dahin hatte ich mich nicht von der Stelle gerührt; nun drehte ich mich um und ging nach oben.

 

Die enger werdende Holztreppe führte mich mehrere Stockwerke hinauf. Als sie fast nur noch eine Leiter war, fand ich mich in einem riesigen Bodenatelier. Draußen schwelgte der Sommer. Auf einer Empore tanzte einer meiner skrupellosesten Freunde mit zweien von den Assistentinnen. Als ich zu ihnen ging, kam die Vorführerin dazu. Ich tanzte mit ihr. Dabei zog ich ihr allmählich den Kittel hoch, bis ich ihre kühlen Backen in der Hand hatte. Als ich weiterwühlte, wand sie sich aus meinen Armen und ging auch zu dem Freund, so daß die Gruppe jetzt zu viert war.

 

Ich blickte durch alle hindurch und versuchte mich auf Großes zu besinnen. Ich nahm einen Kasten und trug ihn hochgestemmt in den Turm. Auch hier führten die Stufen aus rohem Holz von Podest zu Podest an den Mauerwänden hinauf. Durch kleine Öffnungen drang die warme Sommerhelligkeit ins Gebälk. Unten lag gewelltes Land; nah war der Übergang von den Villengärten in die Kornfelder. Am Fuße des Turms stand abfahrbereit einer von den alten, genieteten, schweren Zügen, der uns zu den durchleuchteten Laubwäldern der Höhen bringen konnte. Aber nichts geschah, die Zeit verging.

 

Den folgenden Absatz erwähne ich halblaut, sozusagen nebenbei. Er soll nur einen Farbtupfer abgeben in der Stimmungsmache, die ich hier betreibe. Ein starker Vorfrühlingswind hatte die weite kahle Hangebene fleckig abgetaut. Durch die Öde wühlte sich ein überquellender brauner Strom. Wir wanderten an seinem Ufer aufwärts und suchten vergeblich einen Weg über die eisigen, gefährlich strömenden Widerwellen hinweg. Unser Häuflein umfaßte ein knappes Dutzend Personen. Das Mädchen, mit dem ich getanzt hatte, trug meine Feldflasche; ich hatte ihm dafür eine Decke abgenommen. Noch immer führte es uns dahin, wo wir die Geräteteile verkaufen wollten. Diese hatte ich allerdings bis dahin schon längst stückweise aus meinen Taschen entfernt.

 

Die Frau hatte bald Falten um die Mundwinkel bekommen, ihre Hände waren schlank und nervig geworden, unter den Augen lagen dunkle Schatten aber sie selbst leuchteten in allen Farben der Psyche. Will sagen, sie war mir durch die Haut, die ich noch lieber berührte als früher, näher gekommen. Und das, obwohl gleichzeitig die beginnende Dämmerung das Nahen der ewigen, nun, sagen wir unabsehbaren, Nacht ankündigte.

 

Gegen Abend hatten wir das Schlößchen am anderen Ufer gefunden. Unnahbar stand es in dunklem aber leuchtenden Gelb auf einer kleinen Anhöhe. Wir legten ab und rollten die Zeltbahnen auseinander. Auf dem Rasen wollten wir unser Feuer machen. Irgendwann würden wir hinübergelangen.

 

 

 

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(23)

 

vom 8.1.72 und 1.5.89

 

Die Sängerin riß uns zu Beifallsstürmen hin. Wild und zärtlich sang sie von ihrem Weibsein; sie scheute keine Intimität in Worten und in Taten. Im feuchten Gras umstanden wir zu hunderten das Podest, das an der Rückseite von einer weißen Mauer abgeschlossen wurde. Da ich an der Mauer stand, konnte ich sie von der Seite beobachten. Ich spürte fast, wie weich und fließend ihr Körper sich unter dem prächtigen Mantelkleid bewegte. Sie hatte tiefbraune Haut, voll und schön geschnittene Lippen, maßlos geschminkte aber klare Augen und alles von einer wilden Perücke umrahmt.

 

Doch als sie sich umwandte strahlten ihre Augen nicht nur, sie glänzten wie härtester Stein. Sie waren nicht rund, sondern von unheimlichen Facetten gebrochen. Und als sie einen Schritt auf die Wand zuging, öffnete sich ihr Kleid und wir sahen zwischen ihren schönen Schenkeln ein männliches Glied in der Form und Größe, wie griechische Statuen es trugen. Nur die wenigen, die direkt an der Wand standen, konnten es sehen. Lächelnd nickten wir uns zu - schon gut.

 

Am Fuß der Treppe wollte ein abgerissener Soldat sie umarmen. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte sein Gesicht deutlicher zu sehen, weil es mir bekannt vorkam. Obwohl er aus bestem, wenn auch glücklosem Hause zu kommen schien, drängten vier Gleichgekleidete ihn ab. SIE hatte den Zwischenfall nicht zur Kenntnis genommen, während dessen er plötzlich grau im Gesicht geworden war. "Das gehört zur Vorstellung," sagte ich, um mein Unbehagen loszuwerden.

 

Nach Schluß derselben schlenderten wir gemeinsam den Parkweg hinunter. Unsere Worte fielen tropfenweise. Manchmal zeichneten wir mit den Fußspitzen im Sand. Von der Front war kaum etwas zu spüren. Nur die Wiesen gingen allmählich in nackten Lehm über und das Land wurde flach und baumlos. Noch war kein Ort zu sehen, wo wir die Nacht verbringen konnten, da brannten uns schon die Füße. Wir kamen kaum voran, aber ein Mann mit dem Gesicht meines Vaters überholte uns in schleppendem Marschtritt. Er hatte einen alten Uniformmantel an und einen künstlichen Unterschenkel. Wir blieben stehen. "Ich hab das Lazarett hinter mir," murmelte er, ohne anzuhalten, "muß wieder nach vorn." Alle sahen mich an. "Nun ja," sagte ich mit zitternden Lippen und hilflos durch die Zeiten von ihm getrennt, "er ist zur Front eingeteilt."

 

 

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(24)

 

vom 23.1.72 und 5.5.89

 

Langsam gingen wir durch die leuchtende warme Mitternacht. Die Zypressen, das Buschwerk und die dunklen unregelmäßigen Bodenwellen konnten wir nur erahnen. Dafür blinkten auf den Schotterwegen einzelne Kristallflächen, weil sich in ihnen die Sterne spiegelten. Halbwegs hinter natürlichen Böschungen versenkt lag der flache aber aufwendige Villenbau des Millionärs. Während wir auf sein Haus zugingen, hatte er es schon wieder fertiggebracht, mich anzupumpen. Er hieß Nero und ich war unfähig, seinem kriminellen Charme zu widerstehen.

 

Als wir einen Graben durchquerten, blieb er stehen und stieß mit dem Fuß leicht an einen hellen Gegenstand. Er hob ihn auf. "Ein Totenschädel - sehen Sie hier," sagte er, "Trepanation. Dieses Loch muß bei lebendigem Leibe entstanden sein." Er strich mit dem Finger über den glatten, ausgerundeten Rand. "Der Zweck der Operation ist unbekannt. Und was hierin vorging," er wog den Schädel leicht in der Hand - "ist weder zu ermessen noch zu rekonstruieren." Er ließ das Gehäuse wieder in den kühlen Staub rollen.

 

Erhöhte Bauten gab es hier nicht mehr, auch keine Säulenreste. Dafür waren die steinernen Bühnenterrassen schön erneuert worden. Wir wußten, daß Kulisse, Souffleur und Orchestergraben unterirdisch mit jener Villa verbunden waren. Niedrige Leuchtkörper aus Stahl tauchten die Fläche in sanftes klares Blaulicht. Auf den Steinen der zweiten Stufe, die die Wärme der Tagessonne nicht ganz abgestrahlt hatten, stand der Kopf einer Frau. In dem schönen klaren Gesicht war noch Leben, wenn auch abwesend vor Schmerz.

 

Wie ein Hund kroch Nero auf diesen Kopf zu, um ihn ein letztes Mal zu küssen. Alle Welt sollte sehen, was er durchgemacht hatte. Als man den Kopf sorgfältig wegtrug, bestätigte sich meine Vermutung, daß ich lediglich einer Probe beigewohnt hatte. Der Metzger, ein Meister seiner Zunft, hatte ihn so geschickt vom Leibe gelöst, daß Herz und Lunge noch als blutig pulsierende Klumpen daran hingen.

 

Durch den Pinienwald ging die Straße abwärts in Serpentinen. Die Nacht war noch stiller als zuvor, auch das Meer unten rührte sich nicht. Ich ging stetig, aber Nero blieb immer zwei Schritte schräg hinter mir. Er sprach ohne Unterlaß. Loszurennen wagte ich nicht, weil er mir mehrfach in Aussicht stellte, seine Schulden zu bezahlen.

 

 

 

 

 

 

 

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(25)

 

NR. 21 vom 15.2.72 und 8.5.89

 

Was soll all der Schmerz und Lust? Ich befand mich auf einer ziemlich verlassenen Straße, der Ahornallee, die zum bemoosten Laden des Buchhändlers führte. Ihr Pflaster bestand aus derart dicken, runden Kopfsteinen, daß es mit Holzpantinen kaum zu überqueren war. Das mochte auch der Grund für die tiefe schattige Stille sein, die hier herrschte. An versteckten Bewohnern mangelte es offenbar nicht, denn die alten zwei- und dreistöckigen Wohnhäuser mit ihren schwarz gewordenen Fassaden rahmten die Straße lückenlos ein. Doch weckten morsche Holztreppen, blinde Scheiben und verwunschene Vorgärten Zweifel an ihrer Lebendigkeit. Auch die Blätter spielten so schön mit dem finsteren Sonnenlicht, als hätte die Zeit sie vergessen.

 

Ich nahm zwei Steine, einen großen und einen kleinen und warf sie die Böschung hinab. Zu spät sah ich das Gemäuer des Stellwerks. Eine Scheibe klirrte. Unauffällig setzte ich meinen Weg fort und ging über die alte Eisenbrücke davon. Aber ich war noch nicht auf der anderen Seite angelangt, als die uniformierte Frau mich eingeholt hatte. Atemlos fragte sie: "Waren Sie eben...?" "Ja," sagte ich, "ich habe eben geworfen - war es ihre Scheibe?" Sie nickte erleichtert. "Aber Sie müssen nochmal mitkommen," sagte sie, "mein Vorgesetzter entscheidet das." Sie konnte nur schlecht verbergen, wieviel ihr an meiner Gefügigkeit lag.

 

Obwohl der Vorgesetzte eine ganze Weile bei uns stand, sah ich von ihm nur die Kopfhaut durch den dunklen Haarflaum und seine kräftigen nackten Schultern. Er sprach weder ein Wort noch hob er das Gesicht zu uns auf. Wir gingen gemeinsam zu dem winzigen Stellwerk hinunter. Es war, immer noch halb im Schatten des Ahorns, mehr ein Türmchen als ein Haus. Die Frau klemmte ihren Staublappen unter den Arm und setzte eine braune Emaillekanne auf den Elektrokocher. Der Vorgesetzte und sie waren auf normalem Wege in die Diensträume gelangt. Da standen nachgedunkelte Holzmöbel auf Linoleum und die Wände waren mit grüner Ölfarbe gestrichen. Ich aber war von ihnen durch ein Schalterfenster getrennt. Der Treppenschacht, in dem ich mich befand, erinnerte an ein U-Boot.

 

Ich zog mich trotz der Warnungen des Buchhändlers an den Geländern der steilen Eisentreppen hinauf. Immer wenn ich ein höhergelegenes Podest erreicht hatte, mußte ich allerdings feststellen, daß der Vorgesetzte unmittelbar hinter mir ein Gitter zuschloß, weshalb es keine Umkehr gab. Mit der Zeit wurden auch vor mir die Treppen zu Leitern und die Schächte zu Rohren. Wie ein Maulwurf arbeitete ich mich die letzten Meter voran. Endstation war ein kleines Gitter, durch das ich auf die krautigen Gleise hinabsah. Kein Vor, kein Zurück.

 

Mitleiden mit dieser meiner Situation weise ich zurück. Als Ersatz für die verlorene Bewegungsfreiheit gewann ich beliebige Verfügung über die Zeiten. Nun, das ist keine Kunst für den Künstler. Aber hinzu kam die gleiche Verfügungsgewalt über den Raum, die sonst nur dem Besitzer von Teleskopen gegeben ist. Wohin ich mich auch dachte, ich war im Bilde, wenn auch der Traum, was Farbe, Beleuchtung und emotionale Einbettung betraf, mir seine ehernen Gesetze aufzwang.

 

Die Strecke ging nämlich dort zu dem ruhigen Stadtbahnhof. Sie verschwand in den Tiefen der Hinterhöfe, wo ich damals mein Glück gesucht hatte. Jetzt näherte sich aus ihrer Richtung ein langer Tankwagenzug. Einer nach dem anderen kamen die Fronten der Waggons auf mich zu, bis eine Weiche sie ins Abseits lenkte. Einer nach dem anderen wanderten sie kurz vor meinem Ausguck wie silberne Türme auseinander.

 

 


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(26)

 

22: vom 27.4.72 und 20.5.89

 

Als die Sterne eine besondere Konstellation innehatten, beschlossen wir zwar noch nicht, die Stadt zu verlassen, doch interessierte uns, wo sie aufhörte. Die Ausfallstraße befand sich nicht etwa in schlechtem Zustand, sie schien sogar frisch asphaltiert, aber sie war beiderseits dicht und niedrig bebaut. Alter und Verkehr hatten die Fassaden der Häuser regelrecht geschwärzt.

 

Oder so: In den Straßen aus Gußeisen, zwischen Fassaden aus Rost und erblindeten Fenstern saßen wir an einem Tischchen aus Stahl. Die Finsternis, die uns umgab, wurde bläulich verdünnt durch einen Bunsenbrenner darauf - einziges Zeichen der Gastlichkeit. Ein ungeheurer anonymer Lastwagenverkehr hatte den Bürgersteig zusammengedrängt auf einen halben Meter, so daß wir zeitweise dicht zwischen Haus- und Wagenwänden saßen. Da es aber keine Fußgänger gab, behinderten wir niemanden.

 

"Bei Schröder & Schröder hätte ich 12einhalb gekriegt," sagte mein Geschäftspartner, "aber der hätte mir nur die Hälfte abgenommen," setzte er nach einer Pause hinzu. "Etwas verlassen hier," murmelte ich. "...aber sehr gemütlich," ergänzte ich schnell, als ein prüfender Blick mich traf. "Elfdrei bei Hundert gibt etwa 5000...zwölfhundert bei Fünfzig nur Viereinhalb," kommunizierte er mir. "Bedenkt man, daß nur eine Handbreit von uns, ein paar Kilometer Atmosphäre, das absolute Nichts ist - vielleicht fünf Grad Kelvin und ein paar Photonen - dann kann man sich hier natürlich nur wohlfühlen." "Das einzige Problem wäre noch der Lagerbestand," gab er zu bedenken.

 

Mit dem Straßenverkehr hatte es folgende Bewandtnis: Wenn ER sprach, herrschte die nächtliche Stille. Sobald aber ich das Wort ergriff, arbeiteten sich unabsehbare Fahrzeugschlangen an uns vorbei. Dies geschah zwar in geisterhafter Lautlosigkeit, hatte jedoch die Folge, das mir jedesmal die Stimme wegblieb.

 

Einen Lichtblick brachten zwei Schnapsgläser, die nach Ablauf einiger Wochen plötzlich vor uns standen, in unser Symposion. Zwar waren sie wegen der angespannten Finanzlage des Etablissements nur mit Benzin statt mit Korn gefüllt. Aber sie sammelten das Licht des Bunsenbrenners in einem blaustrahlenden Punkt und gaben diesem durch Brechung noch einen schmalen blaßgelben Halbrand.

 

"Ein paar Photonen..." sagte er plötzlich klar und ruhig, "nach einigen Lichtmonaten ist damit auch nicht mehr viel los - will sagen, Sie hätten schon Mühe, dieses gemütliche Fleckchen wiederzufinden." Ich hob mein Glas, roch daran und stellte es wieder hin. "Ganz zu schweigen von den eigentlichen Räumen," fuhr er fort, "wo unsereinem nur noch das nackte Grauen bleibt. Nun, nachdem wir uns mit Hilfe der bekannten Halogene einen Hauch davon hereingeholt haben, können wir nicht klagen, wenn uns demnächst alles Eßbare ausgeht. Wasser und Atemluft dürften uns, wenn auch nicht in angenehmer Qualität, noch eine Weile zur Verfügung stehen." Ich starrte ihn an. "Ja und, was wollen Sie tun?" fragt ich ihn. "Was ich gelernt habe: Verkaufen...mir schenkt doch keiner was."

 

 

 

 

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(27)

 

23: vom 6.6.72 und 27.5.89

 

Wir drehten an einigen Hähnen. Sie öffneten sich unter leichtem Quietschen, gaben aber kein Wasser mehr. "Keine Wasserscheu - noch jemand unter die Dusche?" Wir lachten und gingen wieder hinaus. Die anderen Türen ließen wir unberührt, auch wenn sie nur angelehnt waren. Oben summten Bienen zwischen den Feldblumen.

 

An dem Gebäude vorbei führte der Weg zwischen Pappeln abwärts. Es ging durch gepflegte Rasenflächen in einen Park. Grüne Abhänge und Bäume verbargen ein riesiges altes Bauernhaus. "Pappi, wollen wir hier Versteck spielen?" Schon rannte der Kleine über den Rasen, hinter den ersten Busch, dann zum nächsten und wieder zurück. Da kam die junge Bäuerin in Begleitung zweier älterer Männer von ihrem Haus herauf. Aus der Entfernung sah sie frisch und freundlich aus. Doch als sie heran war, zeigten sich um ihre Augen wie Spinnweben die schwachen Narben einer guten Erziehung. Während ich den Kleinen heranrief, überlegte ich: Damit sie nicht einschnappte, mußte ich ihr klarmachen, daß ihre Werte auch für mich von Bedeutung waren.

 

"Ihr Rasen ist ein Meisterstück," sagte ich. "Für mich ist es eine richtige Erholung. Solche Arbeit findet man heute kaum noch woanders." War ihr Mißtrauen besänftigt? "Um so bedauerlicher ist es natürlich, wenn aus Unachtsamkeit darüber gelaufen wird. Gerade in Ihrem Fall können ein paar Fußspuren den ganzen Eindruck stören..." In der Hoffnung, meinem Mitgefühl die richtige Dimension zu geben, redete ich noch mehr in der Art.

 

 

Wir waren aber unterdessen bei dem einzeln stehenden Häuschen angelangt. Innen bestand es aus einem Raum, der mit rohem gedunkeltem Holz teils als Eßzimmer, teils als Scheune ausgestattet war. Eigentlich war nicht das Haus merkwürdig, sondern ihre Art, den Kaffee zu bereiten. Sie hielt einen mit gerösteten Bohnen gefüllten Blechlöffel über die Flamme, bis ein weißer Rauchfaden aufstieg. In dem Moment zerfielen die Bohnen mit einem leisen Knacken zu einem dunklen, lockeren, aromatischen Pulver.

 

Durch den Nebel nahm ich ihr spöttisches Lächeln wahr. Meinte sie mich oder mein Vorurteil über sie? Ihr Bild begann zu flackern. Dann wurde es von horizontalen Zeilen zerschnitten und zerfiel in lauter spitze Dreiecke. Schließlich war nur noch Rauschen, Flimmern und Krümeln auf der Scheibe, die von einem schwarzen Resopalkasten eingerahmt wurde. So hatte ich auch sie verloren.

 

Mein hohes enges Hotelzimmer lag direkt am Luftschacht. Auch im flackernden Fernsehlicht bewahrten die zwei dunkelbraunen Möbelstücke und das schwer zu reinigende Waschbecken ihre Trostlosigkeit. Ich erwog, noch einmal auf die Straßen der brüsseler Innenstadt zu gehen. Andererseits - Schnellrestaurants, Antiquitäten und teure Schuhgeschäfte hatte ich genug gesehen. Und dann, bei der Ansprache, würden mir wahrscheinlich die Worte fehlen. Vielleicht, wenn man etwas schaltete und probierte, gab der Fernseher wieder ein Bild.

 

 

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(28)

 

Nr. 24, S.17, vom 24.7.72,13.6.72 und 28.5.89

 

Auf der Suche nach Wohnraum kann man stundenlang durch die Vorstädte fahren. Es wechseln Alleen mit lauten Kreuzungen, es kommen Felder und wieder Häuserreihen. Flache Neubauten wuchsen aus Bauschutt und aufgewühlter Erde hervor. Sie bestanden aus gelbem Klinker und hatten schöne, große Fenster. Öfter stellte ich den Wagen ab, damit wir durch die Scheiben sehen konnten. Wegen der späten Tageszeit war von Vermittlerseite Niemand mehr anzutreffen.

 

Der Kleine begann an einem Sandhaufen zu spielen. Da die Sonne noch hoch stand, setzte ich mich zu ihm und wir spielten zusammen. Währenddessen studierte sie im Wagen die Annoncen. Dabei vergingen Stunden, ohne daß die Sonne ihren Standort am Himmel merklich veränderte. Wir gruben Steine aus und ließen sie rollen, wir gruben Rinnen und schütteten Dämme auf, dann beschossen wir sie wie Stadtmauern. "Warum beschießen die Feinde die Stadtmauer?" "Damit sie in die Stadt reinkommen - da - schon wieder eine Bresche." "Was ist denn eine Bresche?" "Jetzt stürmen sie vor - die andern schütten kochenden Teer runter." "Warum wollen die sie nicht reinlassen, was ist denn eine Bresche?"

 

Ich hörte keine Fragen mehr. Grübelnd saß ich auf dem Sandhaufen; der Entschluß zur Weiterfahrt wollte sich nicht einstellen. "Was soll das?" fragte ich, als alle aufwärts blickten. Die Sonne war umgeben von mehreren konzentrischen Halbringen mit spitz auslaufenden Enden. "Es ist für die Gefangenen," sagte einer der Mitfahrer.

 

Sie hatten sich am Meer plötzlich wiedergetroffen. Beide waren schlank und in enganliegendes dünnes Schwarz gekleidet. Als er sie, die eben noch die Annoncen studiert hatte, erkannte, waren offenbar auf einen Schlag Monate und Jahre versunken. Der Horizont schien wie mit milchigem Blau auf eine Kulisse gemalt, doch der Sand war weiß und echt. Sie nahmen ein Kästchen von dem Dynamit und gingen Arm in Arm auf das entfernte Meer zu. Der Blitz war nicht so gelb wie die Sonne; er war blasser und lautlos.

 

Dies hatte auch der Kleine beobachtet, ohne ein Wort dazu zu sagen. "Eine Leuchterscheinung, hat nichts weiter zu bedeuten," sagte ich. Vergeblich wartete ich auf einen Kommentar.

 

Als es Abend wurde, saßen wir wie immer an Großmutters Küchentisch mit der brüchigen Wachsdecke. Wir wohnten hoch und sahen hinter dem alten Fensterkreuz die gelben und hellgrauen Dächer über den Garagenhöfen. Hinter der Wüste von Brooklyn mag vielleicht der Ozean sein, dachte ich, aber hinter dem Ozean kommen doch wieder Städte - wozu sollte ich die Küche verlassen? Am Horizont standen ruhige schwarzblaue Wolkenbänke. Vor ihrem Untergang schien zwischen ihnen die Sonne hervor, weiß und kalt wie eine elektrische Bogenlampe. Ihr Hintergrund war tiefe klare Nacht, während die Dächer noch leuchteten. Über die Frage, warum der Kleine nicht gefragt hatte, verblieb mir eine ständige Unruhe. Ich meinte und meine noch jetzt, daß dies Unkommentierte die tiefsten Spuren hinterlassen konnte.