(29)

 

 

Ahnten sie, daß ich ein Reich hatte, in dem die Wellen nicht untergingen? Am Westrand der Insel löste sich ein Felsendamm in einzelne Steine auf. Ein besonders großer Findling war mein Thron und Traumsitz. Nach Sonnenuntergang war eine Stille gekommen, in der nur die Wellen unten in den Hohlräumen murmelten und halblaut klatschten. Als die Nacht sie unsichtbar gemacht hatte, wagten sich die Seeungeheuer hervor. Wegen der ungewissen Entfernung wechselte ihre Größe von der eines Steins über den Rücken eines Wals bis zum Schatten des Eilands und wieder zurück. Auch IHR Bild erschien, schwächer und schärfer werdend ungewiß am Firmament. Nach Stunden zog in der mondlosen Finsternis da, wo der Horizont vermutet werden mußte, langsam ein Licht entlang. Der Abhang in meinem Rücken verriet sich durch einen Schein, etwas wärmer als die Leere voraus. Es ergab sich aus verschiedenen Überlegungen, daß die Wellen einen langen schwarzen Weg, die gefühlte Heerstraße der Unendlichkeit, hinter sich hatten.

 

Ich hatte ihn vor mir. Zuerst mußte ich mich über die Felsbrocken zurücktasten. Dann konnte ich dort, wo der Damm das Land berührte, den lehmigen Abhang der Steilküste hinaufklettern. Klumpen und Steine lösten sich und rollten ins Dunkel. Gelegentlich rutschte ich selbst und mußte achthaben, ihnen nicht zu folgen. Aber hoch oben ging endlich ein Pfad durch die Weizenfelder, über denen bekanntlich immer ein Leuchten liegt.

 

Ein Schattenhafter war plötzlich da. "Guten Abend." "Guten Abend." Er murmelte: “...ne Lasershow... was die sich einbildet... am Himmel... ” Einzige Mitseele unter dem nahen unfaßbaren Firmament. Aber auch sie, die Gegenwart dieses... verging allmählich. Dann wieder nur der Duft von Heu und Salz in der weichen Nacht. Bevor sich die Wirklichkeit endgültig verabschiedete, hatte ich den Hügel überschritten und sah unten die paar Lichter von Kloster.

 

In der Gaststube lebte der Zauber wieder auf. Der Regisseur aus Neubrandenburg hatte eine junge Tänzerin mitgebracht, die gut die Augensprache sprach. Ihr Gesicht war von großer Klarheit, während ihre Haut, obwohl sie einige Jahre älter war als ich, ein ganz wenig von der pubertären Vielfalt der Meinen hatte. Ihr Lachen wurde um so schöner, je mehr die Kontrolle schwand... ich verlor mich, während der Regisseur seiner Routine freien Lauf ließ. Seine langen gekonnten Sprechpausen machten uns atemlos. Meine Mutter war fasziniert. Die Tänzerin aber kannte das Spiel und kümmerte sich nicht darum.

 

 

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(30)

 

 

Einige von den Arbeitern hatte ich vor Jahrzehnten auf dem Bauzug kennengelernt. Jede vorbeifahrende S-Bahn erschütterte unsere Bude in den Grundfesten. Auf den klebrigen Holzplatten klirrten Thermosflaschen und Aluminiumgeschirr. Öliger Staub bedeckte die kleinen Scheiben. Von draußen fiel ein bläulicher Schein herein. Ich zog meinen unförmig gewordenen, feuchten Watteanzug an.

 

Die halbfertigen Sportanlagen draußen erstreckten sich wie altorientalische Kultstätten. Ebene Plätze und plattierte Wege wechselten mit Freitreppen, Becken und Podesten, abegestuft durch polierte und wieder verwitterte Mauern. Eigentlich waren es Opferplätze. Unsichtbar warteten sie weit hinter den Scheiben.

 

Paule Panneck, der Bär und die anderen raschelten mit ihrem Brotpapier und schraubten die Thermosflaschen auf. "Prima ist das geworden," sagte ich. Keiner antwortete. Sie guckten alle auf den Napf, aus dem Paule, der Pastor aß. Er war der kleinste und älteste von uns, maß gerade einssechzig und hatte einen schiefen Rücken. Der Nieter, etwa doppelt so groß wie er, hatte ihm eine Handvoll Salz in die Suppe geworfen. Paule aß unbewegt zu Ende, bis einer der Beobachter herausplatzte: “Na wie hattet jeschmeckt?!” “Och, bißchen scharf,” sagte einsilbig unser Ex-Pastor, im Gefängnis geschrumpft aber nicht gebrochen.

 

 

 

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(31)

 

 

Ich hatte selbst schon daran gedacht, übers Meer zu segeln. Rena und Urobe waren mehrmals zusammen gefahren und hatten seltsame Dinge mitgebracht; diesmal kam Rena allein zurück. Aus der Höhe sah ich, wie sie ihr Boot durch die warmen grünen Wellen lenkte. Als sie es auf den Strand gezogen hatte, strich sie sich die nassen Haarsträhnen aus der Stirn und sagte: "New York - oder was? Wenn Du die Polroute nimmst - das dauert eineinhalb Stunden."

 

Ich lief den dunkelgelben Sandbogen entlang und schob jetzt mein Boot ins Wasser. Auch nach längerer Fahrt durch Haie und Delphine, die mich weit nach Norden abtrieb, bekam ich die gefürchtete Kälte nicht zu spüren. Die grünschwarzen Wogen wankten um mich herum und die Schaumfetzen, die mich trafen, waren so kühl und so warm wie meine Haut selbst. Das Wasser wurde erst wieder heller, als ich der Stadt mich näherte.

 

In dieser Nacht wurde der Mond durch den Schatten der Erde verfinstert. Das Reihenhaus, das ich meinte, lag ziemlich weit vor der Stadt - dahinter begannen schon die Wälder. Es war in dunklem Backstein gehalten, eine Mauer begrenzte das Treppchen und Geranien standen auf den Brüstungen. Schnellwachsendes Buschwerk schob sich von West und Ost ins Blickfeld und drohte die Gehwegplatten zu überwuchern. Ich sah, wie die Blätter größer wurden, während ich ins Haus ging.

 

Und richtig, der Strand hinter der Gartentür lag schon wieder im Licht einer verschleierten Sonne. Auf der Terrasse standen vier Bettstellen mit Matratzen; die zwei hinteren erhöht. Und auf den Matratzen lagen vier ältere, freundliche Frauen. Sie spielten Schach, lachten über Witze und den Tod, tranken und warfen Dartpfeile. "Einer, ders hinter sich hat," riefen sie und freuten sich über meine Ankunft. "... nur nicht den Schüchternen spielen!" "Keine Lügen mehr?" fragte ich scheinheilig. "Keine nötig," grunzte die Älteste, aber mit einem Leuchten in den Augen. Ich klettert zu ihnen hinauf und sie umarmten mich. Ihre Haut war glatt, ihre Hände weich - bevor ich es mich versah, lief ich stoßweise aus.

 

Als ich wieder hinausging, stand der Mond noch immer an derselben Stelle. Er hatte sich weiter verfinstert. Brauner Rauch waberte wie von Flammen gejagt über sein lebloses Gesicht. Kein Grund zur Beunruhigung, aber ich mußte zurück. Zwischen den Mauern aus Backstein ließ das Boot sich nicht wenden. Aber mit Hilfe der der Ruder und einer eigenartigen nächtlichen Luftströmung bewegte es sich langsam nach Süden.

 

 

 

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(32)

 

 

Auf dem hellbraunen Sand drängten sich die Menschen. Langsam, mit blubberndem Auspuff schoben wir uns voran. Eine Mischung aus Staub und Abgasen stieg der grellen Sonne entgegen. Wir fuhren eine Rampe aus verkohlten Brettern hinauf, die für die Mülltransporte gedacht war. Zu beiden Seiten hatten sich hinter Maschendraht Familien und andere Gruppen in zellenartige Abteile einquartiert. Sie hatten dort ihre Liegeplätze und zogen sich um. Nach einigen 50 Metern Auffahrt sollten auch wir unseren Stellplatz erreichen.

 

Jetzt hatten wir ein Drahtgitter zwischen uns und den Verkehr auf der Rampe gebracht und konnten nach hinten einen Blick hinabwerfen auf die fürchterliche Atacama. Sie begann unter uns mit sehr unregelmäßigen Geländeformen, mit Müll- und Schlackenplätzen und endete am Horizont mit schwarzbraunen Dünen, aus denen unsichtbare Flammen schlugen.

 

"Sollen wir da Urlaub machen?" fragte der Kleine ängstlich. "Ja, guck mal, hier ist es doch auch nicht besser," sagte ich ohne Kraft. "Außerdem - da haben wir doch unsere Ruhe." Tatsächlich hatten sich in der Zwischenzeit immer mehr Menschen eingefunden. Sie spannten vor ihren rostigen Autos Planen aus und begannen aus Wellblechresten Verschläge zu errichten. Die Gefahr wuchs, daß wir regelrecht eingebaut wurden. "Schnell...die Taschen...und rein!" flüsterte ich heiser. Schweißgebadet rangierte ich den Wagen durch Staub und Gedränge wieder hinab. Obwohl am Horizont nichts anderes wartete, als der glühende Schotter, wäre ich froh gewesen, freie Fahrt zu haben. Doch immer, wenn ich glaubte, die Peripherie dieser lebenden, wimmelnden Halde erreicht zu haben, war sie so weit angewachsen, daß ich nicht aus dem Kriechgang herauskam.

 

Obwohl in dieser Gegend keine Hoffnung auf Wasser oder Nahrung bestand, wurden die Menschen durch ihre eigene Menge magnetisch zusammengezogen. Allein eine fünfzigjährige Pfadsucherin wollte den Zeichen der Zeit nicht folgen. Sie hatte ihre alte graue Uniform an und trug einen riesigen schwankenden Tornister auf ihrem Rücken. Vielleicht mit einem Anflug von Hoffnungslosigkeit, aber unbeirrt stapfte sie durch den tiefen Sand vor uns her. Vorhin hatte ich sie noch gefragt, was sie vorhätte. "Die Eigenart des Menschseins begreifen," hatte sie gesagt. "hier, die Augen, das Sprechen...wie kommt das zustande? Fische, Halme, Insekten oder gar Trilobiten geben keinen Hinweis darauf; die Wüste noch weniger. Was meinen Sie?" "Ich muß raus hier," sagte ich.

 

Jetzt war ich nicht einmal imstande, ihr den Transport des Tornisters anzubieten. Wo sollte ich ihn auch unterbringen? Außerdem bahnte sie uns den Weg. Mit Schweißbahnen im staubigen Gesicht, mit ihren staubigen, schweren Stiefeln bahnte sie uns den Weg durch Menschen, Blech, Abfall, brüchige Tuchbahnen und Autowracks.

 

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(33)

 

 

Stille steile Pflasterstraßen, zunehmend von Vorgärten bedrängt, führten hinab in dunkle und warme Höfe. Es gab hier Rinnsteine wie auf dem Bauernhof, Mauerwerk aus rauhem Backstein und eine schöne, schwach beleuchtete Kellertreppe. Sie wiederum führte hinab in einen Wohnraum. Der Trichter öffnete sich wieder. Wandteppiche und dunkle Lampen ließen die Wände auseinanderrücken. Voraus löste sich, als unsere Augen sich gewöhnt hatten, die Wand in einzelne Säulen auf. Und durch diese gingen wir, wie ein Luftzug verriet, dem Meer entgegen.

 

In der Laube am Wasser feierten wir ein nächtliches Fest. Ich holte Wein und ließ ihn in die Gläser laufen, bis sie in sanftem Dunkelrot aufleuchteten. Wer etwas sagte, sprach mit ruhiger Stimme; auch die Frauen, die da waren aus meiner engsten Zeit. Von schwacher Wärme erfüllt und so unbewegt wie die Nachtluft hörte ich ihnen zu. Manchmal lachten sie leise.

 

Es gab auch Tage, da konnte man aufs weite, flimmernde Meer sehen. Aber nicht in der Nacht, in der mein Vertriebsleiter plötzlich am Tisch stand. Einige Gäste hatten sich längst aus dem düsteren Raum entfernt. Der Mann hatte nicht nur den Kopf und die unsichtbaren Augenbrauen, sondern auch den unbeirrbaren Blick der Amphibien. In unsern Genen hatten wir schließlich die ganze Erdgeschichte des Lebens. Er sah mich an und sagte: "Herr M., dem K'berg solltest Du was zum Geburtstag besorgen. Sieh mal zu, ob Du ne Schallplatte kriegst; paar Volkslieder oder Märsche - bis morgen, ok?" "Mach ich," sagte ich, während eine lähmende Angst in mir aufstieg. Wer war K'berg? Wieder hatte ich eine Person und ihren Namen total vergessen. Ich hatte ihn bestimmt schon gesehen; er hatte sich auch vorgestellt, aber wie sah er aus? War er vielleicht unter den Anwesenden? "Wir können aufs Schiff," sagte ich.

 

Das Schiff war weiß und glatt und bauchig - weit oben hatte es irgendwo Segel. Ich war bald allein auf dem Deck, das trotz der ruhigen Luft in immer stärkere Schwankungen versetzt wurde. Die Ursache dafür konnte nur ein stetiger Sturm in großer Höhe sein. Ich stellte mich an die marmorne Reling und umfaßte sie, so gut ich eben konnte. Bald mußte ich mich festklammern und als das Deck in die Vertikale schwang, konnte ich mich hinüberziehen. Dann lag ich einen Moment lang auf der runden Schiffswand, bis sie zurückschwang und ich mich wieder deckwärts wälzte. Minuten später war das Schiff gekentert.

 

Obwohl die Lampen von der Promenade her nur wenig Licht gaben, erleichterte das klare Wasser unsere Rettungsarbeiten. In einem riesigen durchsichtigen wassergefüllten Kunststoffsack zogen wir die Opfer ans Ufer. Wir schnitten die Hülle auf, der Wasserschwall lief ins Meer und siehe, die lieben jungen Frauen regten sich.

 

 

 

 

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(34)

 

 

Von keinem ernsthaften Astronomen wird heute die Existenz erdähnlicher Fixsternbegleiter ausgeschlossen. Sicher könnte ein solcher Planet größer sein als die Erde, während sein Zentralgestirn nur mit einem Bruchteil der Sonnenleuchtkraft strahlte, so wie beispielsweise der rötliche und nicht allzu ferne Epsilon Eridani es tut. Dort jedenfalls wäre der Wind schwächer und der Mittag gerade eine Dämmerung. In gleichmäßigen Atemzügen würde der Ozean seine Wellen an den Strand schicken.

 

Während der Kleine im Sand spielte, warf ich mich ins Wasser und schwamm durch seine klare Dunkelheit. Dann lief ich über die erste flache Düne und sah die zahlreichen Arme eines Deltas. Hell strömte es in Rinnen aus reinstem Kies. Dahinter erhob sich die Düne nochmals, wurde aber steiniger und hatte Rauhreif auf dem Kamm. Unten im feuchten Sand steckte ein Quadratmeter Spiegelglas, hinter dem ein paar Kinderbeine hervorguckten. Langsam und gleichmäßig bewegten sie nach Art einer Mechanik unsichtbare Pedalen. In der Hoffnung auf eine Reaktion begann ich, Sandklumpen in die Richtung zu werfen. Doch über mir bemerkte ich fünf uralte Männer mit einer Haut aus Borke, die mich beobachteten. Sie blickten so unverwandt zu mir herüber, daß ich erkannte: sie wußten es. Sie wußten, daß DASDA aus nichts anderem bestand, als aus zwei Beinen und einem Unterleib.

 

Ich wäre jetzt lieber bei den Gletschern gewesen. Nicht nur, daß sie in guter Entfernung aufstiegen, auch vom Licht brach sich in Ihnen eine düstere Fülle in karmin und türkis. Doch stand ich plötzlich vor einem Schreibtisch, der den steinigen Weg versperrte. Kontrolle. Beiderseits, parallel zum Ufer liefen Maschendrahtzäune weit ins dämmernde Land.

 

Die Uniformierte hatte eine Injektionsspritze in der Hand und legte meine Papiere beiseite. Dann kam sie langsam näher und fragte: "Wie kommen Sie hierher?" Ich wagte nicht zurückzuweichen. Sie drückte mir die Nadel unterhalb des Nabels in das Fleisch. Ich spürte keinen Schmerz, aber einen großen Widerwillen und war froh, daß sie sie sofort wieder herauszog. Die Folge war, daß sie nun erst außerhalb meines Körpers den Kolben zurückziehen konnte. Glücklicherweise geschah, was ich kaum zu hoffen wagte: die Spritze füllte sich mit meinem Blut.

 

 

 

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(34)

 

Die Hausbesitzerin Rosi machte Sonntags ihre Kontrollgänge. Sie ließ sich hereinbitten und während sie süß vom schönen Wetter, von ihrer schlechten Gesundheit und den hohen Kosten sprach, registrierten ihre schnellen Augen jeden Fleck auf Türen, Boden und Tapeten.

 

"Hach, und die Kinder haben schon wieder den Fahrstuhl kaputtgemacht!" "Was denn?" fragte ich. "...alle Knöpfe beschädigt und die Verkleidung..." antwortete sie lächelnd unter Schmerzen. Da unser Knabe mit zwei Jahren das älteste zur Zeit anwesende Kind im Hause war, griff mein wachsames Weib ein: "Unser reicht aber nicht so hoch, gucken Sie mal!" sagte sie, seinen Arm hebend. "Aber man kann ihn ja auch tragen," flötete Rosi zurück. Als mein Weib die Brauen zusammenzog, setzten mit eisernen Prügeln die Glocken der Rochuskirche ein. Ich war erleichtert über das Ende des Gesprächs, aus zwei Gründen: erstens konnte Rosi juristisch sehr rabiat werden und zweitens war diese helle, verkehrsgünstige Wohnung erst nach Zahlung etlicher Sporteln, Provisionen und Sicherheiten, die ich nicht abschreiben wollte, zu mieten gewesen.

 

Rosi aber geriet augenblicks durch eine Art Hüpfen in longitudinale Begeisterung: "Die Englein rufen mich, die Englein rufen...ich muß zu meinem lieben Gott..." im selben Atemzug noch nährte sie aufkeimende, wenn auch unbestimmte Hoffnungen: "...ich muß in meine Kirche!" Alles meins - und war davon.

 

 

 

Ohne Zweifel, das Haus stand unter einem bösen Stern. Auch am Tage war es in seiner Umgebung nicht heller als im Schein des Saturn. Umstanden von anderen, ähnlich langen Gebäuden lag es wie eine Raupe auf dem Scheitel eines finsteren Hügels. Als Junge hatte ich vergeblich versucht, seinen endlosen Dachböden zu durchkriechen. Zwischen staubigen Balken und den immer heller werdenden Strahlen der Abendsonne hatte ich Meter um Meter zurückgelegt. Ab und an hatte ich auf rauhen hölzernen Stufen Rast gemacht, hatte mich neugierig in verlassenen Backstuben und hohen Kinderzimmern umgesehen und war auf wackligen schwebenden Treppen bis in entlegene Verstecke vorgedrungen. Aber immer mußte ich umkehren, bevor ich eine Grenze erreicht hatte.

 

Das Haus war auch jetzt noch irgendwo bewohnt; jedenfalls hatten wir in einem Zimmer übernachtet. Wir hatten nicht geschlafen, weil es keine Betten gab. Stattdessen waren wir etwas ratlos auf den braungestrichenen Dielenbrettern umhergegangen, nicht ohne von Zeit zu Zeit vergeblich mit einem Blick in das Dunkel der Flur zu dringen. Mehr als einmal glaubten wir dort die Gestalt der Vermieterin zu erkennen; wir sprachen aber nicht darüber.

 

Währenddes hatte sich in den schweren erdigen Schuttmassen des Tales eine gespenstische Baustelle aufgetan. Kräne schwenkten langsam ihre weißen Lampen über den aufgewühlten Boden, ohne ihn aus der großen Höhe merklich erleuchten zu können. Neben einigen heulenden und brummenden Baumaschinen sahen wir Leute, die mit bloßen Händen in der Erde gruben, als wären sie eben obdachlos geworden. Ihre hellen dünnen Kleider wehten im Nachtwind. Von dem langen Haus existierte nur noch das letzte Drittel. Die Bergwände oder das umgebende Dunkel schienen näher herangerückt zu sein. Vom Zimmer des ersten Stockwerks waren die Vorderwände abgebrochen und an der Nahtstelle war die Tapete in langen Fetzen gerissen. Ein Deckenbalken mit den Resten abgesplitterter Dielenbretter bildete den Absatz im Erdgeschoß. Da oben stand im Schlafanzug Rosi, schlug einen Stein nach dem anderen los und stieß die Trümmer wütend mit der umgedrehten Spitzhacke in die Tiefe.

 

 

 

 

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(35)

 

 

Da es hieß, daß zwei große Familien verunglückt wären, begab ich mich zur Unfallstelle. Die Leute aus dem ersten Wagen - Mann, Frau und zwei Kinder saßen am Bürgersteig und die Familie aus dem zweiten Wagen mit vier Kindern auf einer niedrigen Gartenmauer gegenüber. Alle waren furchtbar abgespannt und still, aber bis auf zwei Stirnpflaster waren keine Verletzungen zu entdecken. "Wie lange sitzen Sie denn schon hier?" fragte ich. "Seit gestern," antwortete das Haupt der kleineren Familie.

 

Plötzlich stand meine Schwägerin vor mir. Schlank, mit den torpedoartigen Büsten, das schwarze Haar zusätzlich hochgetürmt, richtete sie sich auf wie aus dem Nichts. Mit dem hübschen Näschen und dem kleinen Mund, der sich so oft im Ekel verzog, lächelte sie mich an. Nicht zu vergessen die unruhigen, alles gewärtigenden Augen, die der Freundlichkeit eine gletscherhafte Temperatur gaben. "Gisela, Du hier?" fragte ich, "bist Du betroffen?" Sie blickte über die Opfer hin. "Hier kann keiner weg," bestimmte sie, "es ist noch nichts aufgenommen. Außerdem ist es meine Hochzeit!" Tatsächlich flatterten weiße Bänder an den Antennen der Autowracks.

 

Da stand Gisela, erhitzt und stolz auf ihr Werk, wenn auch blasser als im Leben. An Grüppchen diskutierender Bekannter vorbei war ich gleich zu ihr gegangen. Ich spürte ihren trockenen, vibrierenden Händedruck wie einen elektrischen Schlag. Eine schwarzgeschrumpfte Vogelklaue entzog sich mir und verschwand hinter ihrem Rücken. Nervös lächelnd deutete sie auf ihre Arbeit, ohne sie mir zu erklären. Ich sah nur ein karges Etagenbett aus verzinkten Stahlwinkeln und ohne Matratzen. Erst nach genauem Hinsehen merkte ich, daß es wie ein Häuschen Wände aus Plexiglasscheiben erhalten hatte. Verwundert sah ich Gisela an. "Jetzt kann ich Arne kriegen," stieß sie hervor.

 

Zum genauen Erfassen der Stimmung ist es unumgänglich, die soeben gegebene Schilderung der Räumlichkeiten kurz zu wiederholen: Es öffnete sich ein Rundbau von kühler Feierlichkeit. Auch das indirekte gelbliche Licht, das ihn erfüllte, gab keine Wärme. Es gab nur die festen schlichten Bänke und vorn das schauerliche Möbel unter einem Hügel von Blumen wieder. Verschlüsselte aber wahre Worte fielen in die Leere. Doch ich sah sie ständig vor mir, wie sie das dünne Seil mit der Schlinge über den Haken warf, an dem die Lampe gehangen hatte. Wie im Krampf prüfte sie seine Haltbarkeit. Ohne zu sehen, zu hören, zu fühlen und wie immer ohne zu sprechen war sie nun unser Mittelpunkt geworden. Oder - ob ihre Augen in dem Behältnis da noch geschlossen waren?

 

 

 

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(36)

 

 

Wie lange wir uns schon in der Kleinstadt aufhielten, hätte ich nicht sagen können. Die Notwendigkeit der Abreise war uns dunkel bewußt geblieben, aber nie ausgesprochen worden. Wir befanden uns wieder mit einer Schar alter, kaum noch bekannter Freunde in der düsteren Tanzbar. Sie hatte mehrere Ebenen und die einzelnen rotbeleuchteten Zimmer waren durch Treppen mit uralten Holzgeländern verbunden.

 

Meine Frau trug ihr enges Schwarzes, ich hatte meinen guten Anzug an. Wir hielten uns an der Hand, während wir unbehelligt die Bartheke aufsuchten; nur gelegentlich hatten wir eine Begrüßung oder ein kurzes Gespräch. Auffallend war die dunkle Bekleidung der meisten Gäste. Auf den Barhockern sitzend, unterhielten wir uns in unregelmäßigen Abständen über diese und jene Beobachtung.

 

Die Gäste hatten die Stätte unmerklich verlassen. Auch wir wünschten uns von weißen geräumigen Straßenbahnen davongetragen. Zunächst aber führte uns ein teppichbelegter und türloser Flur direkt auf ein Wohnzimmer zu. Dort hingen schwere Vorhänge von den Wänden und auf dem Diwan lag eine Frau. Während mein Weib vorausging, begann die Liegende sich auszuziehen und sprach mit mir über alltägliche Dinge. Als sie bemerkte, daß ich gehen wollte, weil ich nicht sicher war, stellte sie viele Fragen. Ich ließ mich aber nicht aufhalten.

 

Flüsternd zog ich mein Weib in die Ecke: "Hier stimmt was nicht, laß uns vorsichtig sein...am besten man hört uns überhaupt nicht mehr!" Es ließen sich nämlich alle Türen, die wir von außen nach innen durchquerten, nicht mehr öffnen, so, als würden wir Zug um Zug von der nächtlichen Außenwelt abgeschnitten.

 

Gleichzeitig war es dumpfer und wärmer geworden, weil nicht nur der Boden, sondern auch die Wände mit einem dicken, alten, rotschwarzen teppichartigen Material den Raum zusätzlich einengten. Es war wie 1946 in der kalten Hungerzeit der Besuch bei Frau Stoffregen, die uns, glaubensbewegt, etwas anzuziehen in Aussicht gestellt hatte. Die Anproben fanden in einem kleinen überheizten Wohn-, Schlaf- und Eßraum statt, der bis obenhin vollgestopft war mit Tuch und mit Filzresten. Ein Bügeleisen ließ Dampfwolken aufsteigen. Es bedurfte einiger Pausen in dem Gerede und Geplauder der Frauen, um an seinem schwächlichen Husten den Schneider auszumachen, der zwischen Ballen halbversteckt oben auf dem Tisch hockte. "Wart hier auf der Treppe," sagte ich, "ich sehe mal nach unten..." "Ein Fenster!" rief sie plötzlich und hielt sich die Hand vor den Mund. "Wo?" Das Fenster, nicht größer, als eine Postkarte, war kaum zu finden in den Verwinkelungen des Flures. Aber als sie den Staub abgewischt hatte, leuchteten draußen die mörderischen Weiten der Arktis. "Das ändert die Lage natürlich," murmelte ich, "wir sollten nicht... hier ist es wenigstens warm."

 

Aber die Geborgenheit dauerte nicht lange, denn nun öffneten sich auf einmal alle Türen wie von selbst. Frau Stoffregen wohnte im Schiff, dem alten Armenviertel am Elbhafen und wir mußten fast eine Stunde lang zurücklaufen bis zur Auguststraße am Bahnhof. Da es inzwischen Nacht geworden war, vereiste die Nässe an unseren klobigen Schuhen und wir froren gewaltig.

 

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