Populationsdichte und Struktur,

Übervölkerung und Ressourcen,

Alternativen und Aggression


Anmerkungen zu einem Thema,

das der neuen Unübersichtlichkeit

zum Opfer gefallen ist.


Die Verdichtung ist der Motor der Geschichte. Die geschriebene Geschichte ist eine Geschichte des Wachstums. Die Menschenzahl, der von ihr getriebene Ressourcenstrom und das Maß, in dem sie sich organisieren muß, stehen in engstem Zusammenhang. Jede Änderung einer Population wirkt auf ihre Struktur; jede Dichte braucht ihren Organisationsgrad. Die Bevölkerung des Niltals zur Zeit der Pharaonen war nicht mehr mit den Organisationsformen der Gartenbaukultur zu versorgen. Sie mußte Bewässerung und die mehrstufige Hierarchie einführen. Die Dichte des 19. Jhrhs. brauchte Eisenbahnen und Aktien bzw. Straflager. Dagegen kam die Faustkeil-Kultur ohne das Internet, ohne Geld und ohne das Rad aus. Jegliche Aktivität, die von Menschen gemeinschaftlich ausgeübt wird, verlangt eine Ordnung, die abhängt ab von der Anzahl der Individuen, bezogen auf die ihnen verfügbaren Ressourcen. Der Ressourcenstrom, der von einer Gesellschaft in Gang gesetzt werden kann, hängt ab von dem Grad, in dem sie sich und ihre Umwelt organisieren kann. Die Steuerung größerer Gruppen, beispielsweise für den Kanalbau oder die Prozessionen, erfordert einen mehrstufigen Aufbau der Verwaltung und dieser setzt eine differenzierte Sprache voraus, damit Signale und Anweisungen sachgerecht übermittelt und schichtspezifisch angepaßt werden können.


Eine Population kann nur die Größe annehmen, die ihr der Organisationsgrad erlaubt. M.a.W. das Wachstum einer Population ist begrenzt durch die Möglichkeiten der Steuerung innerhalb der Gesellschaft, sprich ihrer (vor allem hierarchischen, d.h. Steuerungs-) Ordnung und der Lösung und Verteilung der materiellen Flüsse mit Hilfe der technischen Einrichtungen. Wobei diese Einrichtungen wiederum abhängen von dem Maß, in dem sich eine Gesellschaft zu organisieren vermag, in dem sie Wissen, Erfahrung, Geschick, Steuerungskompetenz, Kommunikation und Einordnung, Arbeits- und Schichtenteilung übt. Sie hat die Wahl, entweder das Joch der Ordnung oder die Schrecken der Dichteregelung, zB des Krieges auf sich zu nehmen.


Eine einstufige Hordenstruktur ist sicher nicht geeignet, Aquädukte zu bauen oder das Internet zu betreiben. Struktur und Ressourcenstrom sind aber noch weit enger miteinander verkoppelt und empfindlicher korreliert, als dieses Statement verrät. Die Macht der Struktur, die Macht der Organisation wird veranschaulicht durch den Bau der Pharaonen-Pyramiden. Nach allgemeiner Überzeugung stellen die Pyramiden eine ungeheure Energie- und Ressourcenverschwendung dar. Ich stimme zu. Hätte man statt ihrer die Landwirtschaft gefördert, würde sowohl ein riesiger Unterdrückungsapparat als auch der Hunger der Kleinbauern verschwinden. Das bestreite ich; der Apparat würde durch die Hintertür der Verwaltung wieder hereinkommen.


Die Pyramiden organisierten das Land auf sich hin; sie organisierten es damit aber auch als Ganzes, sie schufen Transportwege, Zwänge, Kenntnisse, Verwaltungen, die neben der Ritual- auch die Produktionsordnung trugen. Nicht wünschbar, aber angesichts der Menschenzahl unumgänglich. Ohne die Pyramiden hätten wir Pol Pot. Sie sind der Preis der Ordnung. Es scheint überhaupt, als seien Produktivität und Ritual bzw. Luxus auf enge Weise miteinander verkettet, als hingen nicht nur Gräberbau und Brotbacken, sondern auch Wasserwerk und Golfplatz, Weihräuchern und Frachtverkehr, Schauspielern und Kartoffelroden miteinander zusammen. Denn sobald der Luxus verschwindet, kommt zur Unterdrückung der Mangel - vermittelt durch den sinkenden Organisationsgrad.


Überschreitet der Organisationsgrad ein bestimmtes Maß - und er mußte sehr hoch sein, um die Tausende von Arbeitskräften an einem Ort zu ernähren - dann reicht er aus, eine Vielzahl weiterer Produkte hervorzubringen. Es entsteht eine Art Mit-Zug-Effekt, der es unmöglich macht, ausschließlich Brot zu backen. Auch wenn die Absicht bestanden haben sollte, dies zu tun, hat sich eine solche Menge an Technik, an Wissen, an Steuerungsmacht konzentriert, daß eine Diversifikation der Produkte nicht mehr zu verhindern ist. Man braucht Brot und Rettiche, gut, aber die Schmiede und Bauleute, die Verwalter und Schreiber, die dafür nötig sind, bringen mehr zustande. Sie sind einmal da und stehen schon auf Grund des jahreszeitlich schwankenden Arbeitsanfalls für Überflüssiges zur Verfügung. Wer Pflug und Speicher bauen kann, der kann auch Schmuck und Paläste machen, wer den Kanalbau organisiert, kann auch Krieg führen, wer Vorräte verwaltet, kann auch den Lauf der Gestirne voraussagen und umgekehrt.


Nicht also, daß das Ritual ein Abfall der Produktion war - es war und ist eher ihre Lokomotive! Es stellte nicht nur die Ordnung her, sondern auch den Druck, der die Lenkung ermöglichte. In der Globalisierung generiert die Ungleichverteilung des Geldes seinen Wert und seine Steuerkraft. Diese Steuerkraft versorgt die Gesellschaft bis zu dem Punkt wo ihre Erträglichkeit endet, d.h. wo das Elend der Ordnung größer wird als ihr Nutzen. “Elend” bedeutet hier nicht nur den ökonomischen Schaden, sondern auch die endliche Kraft der Individuen, eine Ordnung zu erhalten und zu ertragen.


Man sollte probehalber den Blickwinkel gänzlich wechseln: nicht die Menschen machen die Strukturen, sondern diese sind unsichtbar durch die Dichte vorgegeben und werden von den Individuen besetzt oder erkämpft. Steuerung, Rang, Abhängigkeit und Norm sind Orte innerhalb der Struktur, die unterschiedliche Anzahlen von Individuen aufnehmen und deswegen - gleich, ob erwünscht oder gefürchtet - die Gesellschaft aufteilen. Es entstehen Schichten und Funktionen, die bestimmte Verhältnisse der Besetzung untereinander aufweisen und die gemäß diesen Verhältnissen unterschiedliche Effektivität beim Betreiben der Ressourcenströme entwickeln. In Betrieb und Verwaltung beispielsweise heißt dieses Verhältnis Kontrollspanne, und es entscheidet darüber, ob ein Bereich überorganisiert oder ungeordnet ist. Jede Abschaffung von Rängen erfordert neue Vollmachten - also Ränge.


Das Schema der Steuerung beginnt sich bereits in der unbelebten Natur zu zeigen: eine Ansammlung von Materie bildet regelmäßig ein Gravitationszentrum und eine Drehachse; beides Orte, die die Bewegung des Bereichs bestimmen. Der erste Mehrzeller, Volvox, macht nur Sinn, wenn seine Geißeln eine koordinierte Bewegung ausführen, wenn also eine Steuerung vorliegt. Während das Individuum im Lauf seiner Phylogenese - vom Ganglion zum Gehirn, von der Obstsäure zum Hormonkomplex - eine Unzahl von Interdependenzen und Steuerungshierarchien ausbildet, gerät es allmählich selbst unter Kuratel. Spätestens bei den Säugern materialisiert sich die Steuerung in der Figur des Leittieres. Diese Rolle ist auch gleich im Übermaß von Ritualen gestützt und mit Vollmachten ausgestattet. Das Leittier dominiert die anderen, frißt als erstes und trägt eine Mähne. Die Steuerungsmacht wächst mit der Differenz der Körperkräfte, der sozialen Kompetenzen, der Intelligenz, des Besitzes, der anderen Privilegien, des Ansehens usw. Die Erfahrung zeigt, daß mit dem Druck die Differenzen wachsen; die Logik verlangt, daß mit den Differenzen die Steuerungsmacht wächst. Mit dem Wachstum werden allmählich aus Vollmachten Privilegien und aus Steuerung Unterdrückung.


Hält der Organisationsgrad nicht Schritt mit der Verdichtung, dann setzen die Mechanismen der Dichteregelung ein, die die Natur in Form von Krieg, Seuchen, Hunger usw. seit Beginn des Lebens übt. Insofern gibt es kein "Lernen aus der Geschichte". Die Individuen mögen zwar gelernt haben, daß Krieg oder Krankheit für sie höchst unangenehme Folgen haben, aber die Gesellschaft / Nation / Sozietät / Firma / Konfession usw. wird bei zunehmendem Druck, d.h. unter dem allmächtigen Gesetz der Verdichtung, dann eben nicht den Krieg erklären, sondern den Frieden verteidigen. Unter Verdammung des Krieges, versteht sich. Oder unter Umbenennung des Krieges in Revolution. Das Verhalten von Individuum und Gesellschaft ist nicht nur verschieden, es ist das Verhalten grundsätzlich verschiedener Wesen(heiten), ja, es kann die Handlung der Sozietät oder des Bereichs den Absichten aller bzw. der Mehrheit zuwiderlaufen. Wille und Glauben des Individuums sind erst relevant, wenn sie zur Norm werden und zu gemeinsamer Handlung geeignet sind.


Man redet gern von der menschlichen Dummheit, vergißt aber, daß die besseren Einsichten der Einzelnen - auch vieler Einzelner - nur unter bestimmten Bedingungen Einfluß auf die Bereichsbewegung haben. Vor allem kann die Steuerung, z.B. in Gestalt der Regierung unter bestimmten (zu untersuchenden) Bedingungen den Intentionen der Gesteuerten konträr zuwiderlaufen und sich trotzdem durchsetzen. Soll heißen, daß Intention und Ergebnis zusammen- und auseinanderlaufen können, je nachdem wie die Gesetze der Vielzahl und der Hierarchie es bestimmen. Die resultierende Bewegung aber kann von beiden unabhängig sein. Haben beider Intentionen die gleiche Richtung, dann, so scheint es, ist das Ergebnis klar: es geschieht, was beide wollen. Auch das ist nicht sicher. Denn was geschieht, wenn die Bewegung auf das Ziel hin nicht für eine Steuerung bzw. für eine gemeinsame Bewegung geeignet ist? Geeignet sind ja nur solche Steuerzeichen wie "Freiheit für...!", "Nieder mit...!", "Schlagt xy tot!", “zum Rathaus!” u.Ä. Weniger geeignet ist "Spielt das Forellenquintett!", "Hebt die Titanic!" oder gar "Keine Gewalt!". Im Falle ungeeigneter Signale ereignet sich meist eine Richtungsänderung der Massen-Bewegung auf die massen-geeigneten Ziele hin. Es sind die Das-haben-wir-nicht-gewollt-Ziele. Und was, wenn die Intentionen von Lenkern und Gelenkten sich widersprechen oder wenn sie nur graduell voneinander abweichen? Es ist das Ziel dieser Arbeit, die genannten Gesetze darzustellen und ihr Zusammenwirken mit dem Weltbild der Individuen zu zeigen.


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Grenzen der Organisation


Obwohl der Organisationsgrad eine scheinbar unerschöpfliche Spannweite zwischen der einstufigen Hierarchie der Jäger und Sammler und den unübersehbaren Verflechtungen der Atomgesellschaft und darüber hinaus zu haben scheint, gibt es doch einige Begrenzungen, die er nicht überwinden kann. Diese sind (unter möglichen anderen) erstens das Ende des Ressourcenvorrats, zweitens der Aufwand für die Organisation und drittens die Organisierbarkeit des Individuums.


Der begrenzte Ressourcenvorrat ist der finale Spielverderber, ist aber eine sehr variable Größe. Als das Holz zu Ende ging, stieg der Organisationsgrad auf ein Maß, das den Abbau der Kohle erlaubte. Mit deren Unverträglichkeit kam die Steigerung in die Erdölindustrie und schließlich die Lösung der Energie aus dem Atomkern. Mit dem Schritt zur Fusionstechnologie lernen wir, daß die Schwelle, hinter der die freizusetzende Energie gestaut ist, immer höher wird und der Aufwand dem Ertrag immer näher kommt. Der Ertrag aus der Fusion soll unter 1% der eingesetzten Energie liegen. 99% sind Abfall, gefährlicher Abfall.


Ergo hat der Verbrauch nicht nur die Minderung der Vorräte, sondern auch die Kontaminierung der Nische zur Folge. D.h. der Ressourcenschwund sorgt zugleich für die Verschlechterung der Lebensumstände in der natürlichen Umgebung. Das Risiko steigt und die Kontaminierung verdirbt Luft, Wasser und Boden, macht immer größere Gebiete durch Sturm, Hochwasser, Trockenheit, Hitze, Gift und Strahlung unbewohnbar. Auch wenn es gelingen sollte, immer neue Quellen zu erschließen, wird die Ökosphäre als Deponie überfordert und wir werden allmählich von den Endprodukten umgebracht.


Nicht unterschlagen werden sollte die Mitteilung, daß Ressourcen mehr als nur Platz und Futter sind. Ressourcen sind zugleich Abstand und Nähe, Sicherheit und Freiheit, Ordnung und Alternativen, Dauer und Veränderung, Steuerung und Selbstbestimmung... Man sieht, auch der Zeitfaktor spielt eine wichtigen Rolle. In dauernder Ruhe wächst der Drang nach Bewegung; bei hektischer Veränderung wird Sicherheit im Bestand gesucht.


Zum zweiten Punkt sehen wir, daß der Verbrauch nicht linear mit der Verdichtung ansteigt, sondern exponentiell. Der Verbrauch, der Ressourcenstrom, steigt nicht nur um die Zahl der Köpfe, sondern er nimmt auch pro Kopf noch beträchtlich zu. Man vergleiche nur den Wasserverbrauch in einer rezenten Stammesgesellschaft mit dem eines Großstadtbewohners. Und man addiere dazu den Aufwand für Reinigung, Förderung, Transport, Verteilung, Berechnung und Verwaltung des Wassers. Wir erhalten damit die Kosten der Organisation, die schon manche Population zum Stillstand, d.h. um-gebracht haben. Im Gleichschritt mit der Technik wächst eine überbordende Bürokratie, deren Kosten eher noch größer sind und die einen tüchtigen, aber unverzichtbaren Beitrag zum Infarkt des Systems leistet. Kurz, die Zahl der Hierarchiestufen, Zuständigkeiten und Privilegien ist von einem bestimmten Punkt ab nicht mehr zu hantieren. Das System verbraucht und verhindert sich selbst.


Und zum Dritten findet der Organisationsgrad in der Steuerbarkeit der Individuen seine Grenze. Individuell ist die Grenze der Leistungsfähigkeit bekannt und meist auch erlebt. In der Gemeinschaft taucht zusätzlich die Steuerbarkeit als limitierender Faktor auf. Gemeinschaftliche Tätigkeiten bedürfen der Steuerung oder Selbststeuerung. Dazu ist die Eingliederung in ein Ordnungsschema und die gruppendienliche Reaktion auf Signale nötig. Die Weigerung oder die Unfähigkeit den Signalen zu folgen, beendet den Beitrag des Individuums zur Gemeinschaft. In der Geschichte sind derartige Verweigerungen als Revolutionen bekannt geworden. Wo sich die Individuen den Anforderungen der Steuerung verweigern, kann der Organisationsgrad nicht mehr erhöht werden. Umgekehrt prosperieren die Systeme, deren Individuen der konsequentesten Steuerung unterliegen, wo also das Elend an der Grenze zur Vernichtung liegt oder wo die Gesteuerten ihr Leben der Steuerung unterwerfen.


Die Steuerungsvollmacht zeigt sich entweder in der zugewiesenen Stellung in der (Planungs- und Steuerungs-) Hierarchie oder in der Verfügbarkeit über abstrahierte Ressourcen, sprich zunächst von Geld.


Hier, im frei agierenden Kapitalismus ist die Standardfrage, welchen Aufwand an abstrahierten Ressourcen es erfordert, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, also z.B. wieviel Stundenlohn man bezahlen muß. Psychologisch entscheidend ist dabei, ob die Arbeit ein bestimmtes angebbares Ziel hat, oder ob nur die Angst vor dem Abstieg treibt. Die Angst vor dem Abstieg (bei uns) ist der Produktivität lange nicht so förderlich wie der Wille zum Aufstieg (wie in China).


Neben der Verdichtung, die eine Steigerung des Organisationsgrades verlangt, ist Verdünnung (unser Problem) eine Minderung des Organisationsgrades, weil mit ihr bestimmte Zwänge, Einrichtungen und Funktionen der Gemeinschaft ausfallen. Durch Pandemien beispielsweise oder Geburtenverweigerung kann der Organisationsgrad soweit zurückfallen, daß er auch die geschwächte Population nicht mehr erhält. In Afrika entfällt durch Aids nicht nur eine bestimmte Generation, sondern zugleich die Familienstruktur. Damit fallen ganze Regionen unter die Subsistenz. Das Problem darf uns aber nicht suggerieren, daß Verdichtung nötig wäre. Es ist der Mensch in seiner Überzahl, der die Biosphäre ruiniert, nicht die Delphine oder Schmetterlinge. Er muß dem Wachstumszwang, der nur eine Folge der bisherigen Verdichtung ist, mit aller Kraft entgegenwirken.


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Folgt der Organisationsgrad nicht der Verdichtung, verlangsamt sich der Ressourcenstrom und Mangel wird empfunden. Das Gefühl des Mangels generiert seinerseits Aggression in den Betroffenen und begünstigt Auseinandersetzungen bis hin zum Krieg. Damit hat ein sinkender Organisationsgrad dieselben Folgen wie die Verdichtung. Dichteregelung setzt ein. Sinkender Organisationsgrad wird versinnbildlicht durch den Zusammenbruch von Wirtschaftssystemen, durch die Zerstörung materieller Strukturen in der Folge von Naturkatastrophen, durch die Entzauberung von Autoritäten, durch die Inthronisierung von Nebenautoritäten d.i. die Aufhebung der Steuerungsmacht und endgültig durch die Erschöpfung von Ressourcen. Wir sind zuviel und dürfen nicht weniger werden. Unser Überlebensrätsel heißt, wie erzielen wir Verdünnung ohne Zusammenbruch?



Anm. zum Weltbild


Die Bewegung und die Bewegungsweise von Gesellschaften entspringen der Wechselwirkung zwischen den eben geschilderten Umständen / Zusammenhängen (nämlich Dichte, Organisationsgrad und Ressourcenstrom) einerseits und dem Weltbild der Individuen andrerseits. Das Weltbild bestimmt die Reaktionen des Individuums. Das Auftauchen eines großen Tieres z.B. weckt beim Gourmet den Appetit, beim Jäger den Jagdinstinkt und beim Laien den Fluchtreflex. Das Weltbild ist das Bindeglied zwischen Information und Verhalten, zwischen Signal und Reaktion, zwischen Befehl und Ausführung.


Es wird sich zeigen, daß nur gewisse Momente des Weltbildes, z.B. die norm-geeigneten, Bedeutung für Bereichsbewegungen haben. Vor allem tritt das Inhaltliche weit zurück gegen die Struktur. Schließlich haben wir der Religion der Liebe die Lebendverbrennung von Menschen zu verdanken, während, um ein Strukturmoment zu nennen, ein einfaches reduziertes Weltbild besser zum Handeln leitet als ein Komplexes.


Eine Drucksituation verlangt Handeln. Handeln verlangt ein stabiles Weltbild, verlangt die Eliminierung von Wenn und Aber. Wir können uns das Weltbild vorstellen als ein Konglomerat von Vorstellungen ("Wasser", "Mutter", "Angst", "Gott", "Geschwindigkeit" usw.) die durch die bekannten Kategorien miteinander vielfältig verbunden und durch Begriffe zusammengefaßt und geordnet sind. Das Denken ist die sukzessive Aktivierung von Vorstellungen längs der sie verbindenden Kategorien. Auf einen Blitz den Donner zu erwarten, heißt von der Vorstellung "Blitz" längs der Kategorie "Kausalität" oder “Folge” zur Vorstellung "Donner" zu gelangen. So bestimmt auch die Form des Begriffes "Revolution" wohin die Verbindungen führen, so daß das Nachdenken über ihre Folgen sowohl zu dem Ergebnis "Destruktion" als auch "Erneuerung" kommen kann.


In den frühesten Zeugnissen der Philosophie finden wir das Bemühen um die Stabilisierung des Weltbildes. Für Aristoteles beispielsweise fand die Kette der Ursachen kein Ende. Er gab ihr Halt durch die Einsetzung des Unbewegten Bewegers. Alles, was das Weltbild stabilisiert, ist geradezu heilig. Der Märtyrer gibt sein Leben für die Unversehrtheit, die Geschlossenheit des Weltbildes. Das Gleiche gilt für den Endzweck der Welt. Da er nicht erkennbar ist, muß er gesetzt werden - von jemandem der seinerseits keiner Setzung bedarf. Solange dieser Punkt nicht gefunden und festgehalten wird, kommt das Denken nicht zur Ruhe. Die Ruhe kann offenbar erkauft werden durch Glaubensstärke, aber auch durch Verdrängung, Zustimmung, Inkonsequenz, Zeitmangel usw. nicht aber durch übertriebenen Forschergeist. Im Bilde bekommen die Kategorien, die bisher ins Nichts greifen, ein Fundament. Das Standard-Fundament lautet, Gott hat es gewollt. Danach sind weitere Fragen zwecklos.


Das Bedürfnis nach Stabilisierung des Weltbildes ist universell. Das Weltbild wird durch Lernen vergrößert - Fakten werden aufgenommen, die Zahl der Vorstellungen nimmt zu - und es wird durch Denken stabilisiert. Begriffe ordnen es, Kategorien festigen seinen Zusammenhalt. Nur durch Unstimmigkeiten zwischen ihm und der Realität wird es immer wieder destabilisiert. Daher ist ein Großteil alles Denken und Handelns auf die Synchronisation von Weltbild und Realität gerichtet. Es zeigen sich zwei grundlegende Formen der Synchronisierung: der Wissenschaftler will das Weltbild der Realität anpassen, während der Fundamentalist die Realität dem Weltbild zu unterwerfen versucht.


Jeder versucht das Weltbild, wo es offene Passungen zeigt, bzw. offene Fragen stehen läßt, zu verankern. Gemäß dem Wissensstand der Zeit war beispielsweise die Frage nach dem ersten Menschen wissenschaftlich nicht zu beantworten. Nur die Schöpfungsgeschichte erlaubt eine Antwort auf die Frage nach dem Vorfahren des Vorfahren. Würde sie nicht die Kette der Geburten beschließen, die Kette der Fragen beenden, dann gäbe es nie eine Antwort. Die Schöpfungsgeschichte lehrt den Frager: der erste Mensch war Adam, der von Gott geschaffen wurde. Damit hat die Ungewißheit ein Ende und der Mensch kann sich der Tat zuwenden. M.a.W. es muß Axiome und Glaubenssätze geben, die ohne Beweis akzeptiert werden, damit ein Handeln möglich ist.


Der Träger eines unverankerten Weltbildes, der Ungläubige also, fühlt sich wie ein Treibender im unendlichen Raum. Er sucht einen Halt, einen Anker, an dem er die ungesättigten ins Nichts fassenden Kategorien befestigen kann: den Ursprung, den Endzweck, die Lebensaufgabe, die Grenze des Universums usw.


Unter zunehmendem Druck wird die Frage nach Freund und Feind entscheidend. Niemand kann kriegerisch handeln, solange offene Fragen bezüglich der Zugehörigkeit, der Merkmale oder von Sym- und Antipathie im Raume stehen. Es muß ein eindeutiges und möglichst deutliches Merkmal zum Unterscheidungskriterium erhoben werden: die Religion, die Kleidung, die Sprache, die Hautfarbe...

Der Unterschied ist jedoch nicht der Kriegsgrund, er markiert nur die Frontlinie. Grund und eigentlicher Antrieb ist die gefühlte Verdichtung. Ohne sie gibt es nicht genug Kämpfer und nicht genug Aggression.


Der Fundamentalist produziert Gewißheit. Er reißt die Dämme ein, die Wunsch und Bedürfnis von der Tat trennen. Darum gewinnt bei wachsendem Widerstand immer die radikalere Form des Glaubens über die moderatere. Der Herr wird die Lauen ausspeien aus seinem Munde. Das Weltbild wird vom Rechtgläubigen, vom Führer nicht auf die Realität, sondern auf die Wünsche, auf den Handlungsbedarf ausgerichtet. Allerdings hat es sich soweit der Realität zu fügen, daß keine Fehlhandlung erfolgt, daß also der Handelnde nicht gegen die Wand läuft.


Damit zeigen sich drei von einander abhängige und teils widersprechende Bedingungen, denen das Weltbild genügen muß: es muß erstens das Handeln ermöglichen, es muß zweitens die Realität abbilden und es muß drittens das Denken ermöglichen, d.h. in sich möglichst widerspruchsfrei sein.


Auch die dritte Bedingung kann einen Grund für das Anspringen der Dichteregelung bilden. Die Widerspruchsfreiheit hängt schließlich zur Hauptsache von Form und Inhalt der Begriffe ab und diese stammen aus der Tradierung von Lebensumständen. Damit ist es ziemlich selbstverständlich, daß der Inhalt solcher Begriffe wie "Engel", "Proletariat", "Biosphäre", "Evolution", "Wahrheit" usw. zum Kriegsgrund werden kann. Mit den unterschiedlichen Inhalten der Begriffe führt das Denken zu unterschiedlichen Ergebnissen und damit zu unterschiedlichen Aktionen auf dieselben Signale. Man versteht sich nicht mehr. Man unterscheidet sich voneinander wie eine biologische Art sich von der anderen unterscheidet. In den differenten Gesellschaften finden sich konträre Gewißheiten. Und für Gewißheiten wird nun einmal gestorben.


Wir müssen es hinnehmen, weil allzeit empirisch bestätigt, daß die Unversehrtheit des Weltbildes ein emotionaler Wert ist, der höher steht als der Erhalt von Lebensfunktionen. Hier treffen sich Märtyrer und Terrorist. Dafür stehen Jesus von Nazareth, Savanarola und Adolf Hitler. Letzterer war zwar nicht als Märtyrer angetreten, folgte aber seinem desaströsen und desastrierendem Weltbild bis in den Abgrund.


Der Gläubige hat nur eine Möglichkeit der Bestätigung: den Glaubensbruder. Besser aber: die Glaubensbrüder. Auf die Fragen, die nicht beantwortbar,"gleichwohl nicht abzuweisen sind," schweigt die Wissenschaft. So bleibt nur die Mission. Der Gläubige muß Gleichgesinnte gewinnen. Sein Weltbild wird nicht vom Wissen geschlossen und stabilisiert, sondern von den Mit-Gläubigen bestätigt. Je größer dabei das Unbehagen an den fehlenden Fakten ist, desto brutaler wird die Mission.


Man sieht, daß das Handeln vom Inhalt des Glaubens völlig unabhängig ist. Über die gegenwärtigen Explosionen des Islam findet man im Koran nur Widersprüchliches. Allenfalls die Gestalt des Weltbildes hat einen Einfluß. Die rationale, die innere Stimmigkeit ist wichtig und die Verankerung in der unendlichen Leere. Die Stimmigkeit ergibt sich aus den Verknüpfungen der Kategorien mit den Vorstellungen derart, daß man auf möglichst vielen verschiedenen Wegen zu den gleichen Ergebnissen gelangt. Unser Weltbild, in dem beispielsweise Kernphysik und Dendrochronologie enthalten sind, kann auf diesen beiden, völlig unterschiedlichen Wegen zur selben Datierung kommen. Ist das der Fall, haben wir (A) eine beruhigende Bestätigung, wenn nicht, (B) eine beunruhigende Erschütterung. A verleitet zum Handeln, B zum Grübeln. Die Hauptsache ist daher für die Bewegung von Massen das Weltbild auf die Tathandlung hin zu reduzieren und in den Individuen zu synchronisieren. Der ganze Bereich “Allgemeine Menschenliebe” muß abgetrennt und ausgeblendet werden, dafür müssen alle kategorialen Verbindungen zur Forderung “Auge um Auge, Zahn um Zahn” führen.


Die Synchronisation der Weltbilder oder die Gleichrichtung der Individuen geschieht dann fast automatisch. Ein chaotische Prozeß des “Einrüttelns” wie zB in den Wirren der Weimarer Republik geht der Gleichrichtung voran. Er bereitet die Individuen vor auf die Gleichrichtung durch den Mißerfolg der Eigenbewegung. Ein Bereich, dessen Bestandteile sich chaotisch bewegen, kommt selbst nicht voran. Auch die Teile erreichen kaum ihr Ziel. Damit wirken zwei starke Gründe auf die Gleichrichtung hin. Erstens ein psychologischer, nämlich der Wunsch, unter Gleichen zu sein, verstanden zu werden und zu verstehen. Zweitens ein logischer, nämlich eine Veränderung bewirken zu können, ein Ziel zu erreichen, dem Chaos zu entkommen - was chaotisch nicht geht. Druck erzwingt Veränderung, “es muß etwas geschehen”, gesteigerter Druck verlangt: “...egal was” und die Not verlangt Gleichrichtung, “...egal wohin”.


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